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Übersicht über die Weisen des ἀληθεύειν

zugeben. Zu ihr gehört das Probieren. Man versteht in ihr, ob es geht oder ob es auf andere Weise geht. Die τέχνη wird um so sicherer gehen, wenn sie einen Fehlversuch riskiert. Gerade auf dem Wege des Verfehlens bildet sich die Sicherheit aus. Gerade wer sich nicht auf eine bestimmte »Technik«, eine bestimmte eingefahrene Behandlungsart, versteift, sondern wer immer wieder neu versucht, wer das feste Verfahren zerbricht, der bringt sich in die rechte Möglichkeit des Sichauskennens, der verfügt über die rechte Art des ἀληθεύειν, das der τέχνη entspricht, der verfügt mehr über diese Art des Aufdeckens. καὶ ἐν μὲν τέχνῃ ὁ ἑκὼν ἁμαρτάνων αἱρετώτερος (b22 sq). Das Fehlgehen können ist ein Vorzug, der zur τέχνη selbst gehört. Sie ist gerade auf Grund dieser Möglichkeit τελειωτέρα. Diese Möglichkeit des Fehlgehenkönnens ist konstitutiv für die Ausbildung der τέχνη. Bei der φρόνησις dagegen, wo es sich um das Überlegen handelt, dessen Thema das eigene Sein des Daseins ist, da ist jedes Fehlgehen ein Sich-Verfehlen. Das Sich-Verfehlen sich selbst gegenüber ist keine höhere Möglichkeit, keine τελείωσις der φρόνησις, sondern geradezu der Verderb. Neben der Möglichkeit des Verfehlens gibt es für die φρόνησις nur die echte Möglichkeit des Treffens. Die φρόνησις ist nicht darauf orientiert, zu probieren; ich kann im sittlichen Handeln nicht mit mir experimentieren. Das Überlegen der φρόνησις steht unter dem Entweder-Oder. Die φρόνησις ist ihrem Sinne nach στοχαστική, sie hat in sich feste Orientierung, geht auf das Ziel zu, und zwar auf die μεσάτης. Bei der φρόνησις gibt es kein Mehr oder Minder, kein Sowohl-Als auch wie bei der τέχνη, sondern nur den Ernst der bestimmten Entscheidung, das Treffen oder Verfehlen, das Entweder-Oder. Sofern die φρόνησις στοχαστική ist, hat sie gar keine Möglichkeit, vollendeter zu sein. Sie hat also keine ἀρετή, sondern ist in sich selbst ἀρετή. So ist die Vollzugsart des ἀληθεύειν in sich selbst bei der φρόνησις eine andere als bei der τέχνη, obzwar beide, sachlich genommen, auf Seiendes gehen, das auch anders sein kann. Damit ist zugleich eine Abgrenzung gewonnen. Die φρόνησις

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