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§ 15. Orientierung über das Wesen der Mathematik


6 Vgl. Met. V,6; 1016bl8 und bl5; 1021al3. Phys.IV, 12; 220al7 sqq.

sind. Aristoteles betont, daß aus Punkten nie eine Linie entsteht (Phys. VI, 1; 231a24 sqq), aus einer Linie nie eine Fläche, aus einer Fläche nie ein Körper. Denn zwischen zwei Punkten gibt es immer wieder eine γραμμή usw. Damit befindet sich Aristoteles in der schärfsten Opposition gegen Plato. Zwar sind die Punkte die ἀρχαί des Geometrischen, aber doch nicht so, daß aus ihrer Summierung die höheren geometrischen Gebilde aufgebaut werden könnten. Man kann nicht von der οτιγμή zum σώμα fortschreiten. Man kann aus Punkten nicht eine Linie zusammensetzen. Denn jedesmal liegt etwas dazwischen, was selbst durch die vorausgehenden Elemente nicht zu konstituieren ist. Damit verrät sich, daß mit der οὐσία θετός zwar eine Mannigfaltigkeit von Elementen gesetzt ist, daß aber darüber hinaus eine bestimmte Zusammenhangsart, eine bestimmte Art der Einheit des Mannigfaltigen, erforderlich ist. Ähnlich steht es im Bereich des Arithmetischen. Für Aristoteles ist die μονάς, die Einheit, selbst noch nicht die Zahl; sondern die erste Zahl ist die Zwei6. Weil die μονάς im Unterschied zu den Elementen der Geometrie keine θέσις in sich trägt, ist auch die Zusammenhangsart der beiden Reiche von Gegenständlichkeiten sehr verschieden. Die Zusammenhangsart eines arithmetischen Ganzen, einer Zahl, ist eine andere als die eines geometrischen Ganzen, als die von Punkten. Zahl und geometrische Gebilde sind jeweils in sich eine Mannigfaltigkeit Die »Faltung« ist die Zusammenhangsweise des Mannigfaltigen. Wir werden den Unterschied von στιγμή und μονάς erst dann verstehen, wenn wir erfassen, welchen Wesens jeweils die Struktur ihrer Mannigfaltigkeitsart ist. Welchen Wesens ist die Mannigfaltigkeitsart von Punkten, der Linie, usw.? Welchen Wesens ist die der Zahl?

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