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§ 15. Orientierung über das Wesen der Mathematik

Dabei ist zu beachten, daß für Aristoteles die primäre Bestimmung der Zahl, sofern sie auf die μονάς als die ἀρχή zurückgeht, einen noch viel ursprünglicheren Zusammenhang mit der Konstitution des Seienden selbst hat, sofern zur Seinsbestimmung jedes Seienden ebenso gehört, daß es »ist«, wie daß es »eines« ist: jedes Öv ist ein Ev. Damit bekommt der ἀριθμός im weitesten Sinne — der ἀριθμός steht hier für das Ev für die Struktur des Seienden überhaupt eine grundsätzlichere Bedeutung als ontologische Bestimmung. Zugleich tritt er in einen Zusammenhang mit dem λόγος, sofern das Seiende in seinen letzten Bestimmungen nur zugänglich wird in einem ausgezeichneten λόγος, in der νόησις, während die geometrischen Strukturen allein in der αἴσθησις gesehen werden. Die αἴσθησις ist das, wo das geometrische Betrachten halt machen muß, στήσεται, einen Stand hat. In der Arithmetik dagegen ist der λόγος, das νοεῖν, am Werk, das von jeder θέσις, von jeder anschaulichen Dimension und Orientierung, absieht.

Die Frage des continuum ist in der heutigen Mathematik wieder aufgerollt. Man kommt auf aristotelische Gedanken zurück, sofern man verstehen lernt, daß das continuum nicht analytisch auflösbar ist, sondern daß man dahin kommen muß, es als etwas Vorgegebenes zu verstehen, vor der Frage nach einer analytischen Durchdringung. Die Arbeit in dieser Richtung hat der Mathematiker Hermann Weyl10 geleistet und sie vor allem für die Grundprobleme der mathematischen Physik fruchtbar gemacht. Auf dieses Verständnis des continuum kam er im Zusammenhang mit der Relativitätstheorie der gegenwärtigen Physik, für die gegenüber der Ferngeometrie, wie sie sich im Ansatz der modernen Physik bei Newton ergab, der Feldbegriff maßgeblich ist. Das physische Sein ist bestimmt durch das Feld. Aus diesem Entwicklungsgang kann man erhoffen, daß die Physiker mit der Zeit vielleicht dazu kommen,


10 H. Weyl, Raum — Zeit — Materie. Vorlesungen über allgemeine Relativitätstheorie. Berlin 1918; 5., umgearb. Aufl. Berlin 1923.

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