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126 Die Genesis der σοφία im natürlichen Dasein


1. Die σοφία nimmt ihren Ausgang vom θαυμάζεσθαι, das schon früh im natürlichen Dasein erreicht wird, θαυμάζει εΐ ούτως έχει (vgl. 983al3 sq). »Man wundert sich über etwas, das begegnet, ob es sich wirklich so verhält«, wie es sich zeigt, θαυμαστόν γὰρ εἶναι δοκεϊ πάσιν, εΐ τι τό) έλαχίστω μή μετρείται (a16 sq). »Verwunderlich ist für alle, wenn etwas nicht durch das Kleinste soll meßbar sein«, d. h. grundsätzlich gesagt, wenn etwas nicht mit dem Bekanntesten, über das man verfügt, sollte verständlich gemacht werden, μετρεϊν, messen, bestimmen, ist die Weise, wie sich das Dasein etwas verständlich macht, μέτρον, ἀριθμός gehören in denselben Bereich wie der λόγος, nämlich des ἀληθεύειν5. θαυμαστόν ist das, was nicht stimmt. »Hier stimmt etwas nicht«. Verwunderlich, »wunderbar« ist etwas für ein Betrachten, sofern dieses mit dem Verständnis, über das es verfügt, bei dem begegnenden Tatbestand nicht durchkommt. Es stößt sich an dem, was sich ihm zeigt. Und zwar begann das Verwundern anfänglich nur bei dem, was auf der 1 Iand liegt: τά πρόχειρα (982b13), »was vor der Hand liegt«. Später ging die Betrachtung allmählich weiter, so daß man sich auch über Größeres verwunderte, was man zunächst als selbstverständlich entgegengenommen hat: über die πάθη des Mondes, was mit ihm passiert, über das Merkwürdige, daß der Mond wechselt, desgleichen darüber, was mit der Sonne passiert, weiter schließlich über das Entstehen des Seienden im Ganzen, daß es so da ist, wie es sich zeigt.

2. Dieses Sich-Verwundern als ursprüngliches Phänomen des Daseins interpretiert Aristoteles nun so, daß er zeigt: es macht sich darin geltend die Tendenz auf ein θεωρεῖν; im Dasein ist von vorneherein eine Tendenz auf das Nur-Sehen-und-lediglich-Verstehen. Dabei gebraucht Aristoteles einen in der damaligen Philosophie geläufigen Ausdruck: ἀπορεῖν, ἄπορος ist dasjenige, was ohne Durchgang ist, wo man nicht durchkommt.


1 Vgl. S. 17f.


Martin Heidegger (GA 19) Platon Sophistes

GA 19