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§ 28. Erste Charakteristik der Dialektik bei Plato

bzw. der jeweiligen αἴσθησις. Seinem ursprünglichen Sinn und auch seiner ursprünglichen Faktizität nach ist der λόγος überhaupt nicht aufdeckend, sondern, wenn man extrem sprechen kann, geradezu verdeckend. Der λόγος ist zunächst das Gerede, das die Faktizität hat, die Sachen nicht sehen zu lassen, sondern eine eigentümliche Genügsamkeit auszubilden, bei dem stehen zu bleiben, was man so sagt. Die Herrschaft des Geredes verschließt gerade für das Dasein1 das Seiende und macht also blind gegen das Aufgedeckte und mögliche Aufdecken. Wenn aber der λόγος in dieser Faktizität als Gerede zunächst das Dasein durchherrscht, muß das Vordringen zum AufgedecktSeienden gerade durch ihn hindurch. Es muß ein solches Sprechen sein, daß es im Für- und Gegensprechen mehr und mehr an das, wovon die Rede ist, heranführt und dieses sehen läßt. Das διαλέγεσθαι hat also in sich selbst die immanente Tendenz auf ein νοεῖν, auf ein Sehen. Sofern aber die Betrachtung im λέγειν bleibt, als διαλέγεσθαι im Durchsprechen sich aufhält, kann ein solches Durchsprechen zwar das Gerede verlassen, aber doch lediglich den Versuch machen, zu den Sachen selbst vorzudringen. Das διαλέγεσθαι bleibt im Besprechen; es kommt nicht zum reinen νοεῖν. Es hat nicht die eigentlichen Mittel zu dem, wobei es eigentlich zu Ende sein soll, zum θεωρεῖν selbst. Obzwar das διαλέγεσθαι sein Ziel nicht erreicht, das Seiende nicht schlechthin aufdeckt, solange es noch im λέγειν bleibt, braucht es kein Spiel zu sein, sondern es hat eine echte Funktion, sofern es das Gerede durchbricht, das Gerede kontrolliert, auf das, was gemeint ist, im Sprechen gewissermaßen den Finger legt, und so die besprochenen Sachen in einer ersten Anzeige erstmalig und in ihrem nächsten Aussehen vorgibt. Das ist der Grundsinn der platonischen Dialektik*. Sie hat in sich


' Rh. Hs.: des Menschen (anstelle des im Text durchgesuichenen: und für das Leben).

' Rb. Hs.: Randnotiz: i.S. der originellen Bedeutung dieses Philosophierens.

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