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§ 28. Erste Charakteristik der Dialektik bei Plato

Denktechnik zurecht gemacht, eine Denktechnik des dialektischen Hin und Her, eine Methode, die dann am besten läuft, wenn sie von Sachkenntnis möglichst unbeschwert ist, und zu der nichts gehört als ein leerlaufender, wildgewordener Verstand. Was für Plato eine innere Not war, nämlich zu den Sachen zu kommen, das wird hier zu einem Prinzip gemacht, mit den Sachen zu spielen. Die platonische Bemühung in der Dialektik läuft gerade den entgegengesetzten Weg, das ὂν ἀληθινόν, das, was ist, zu sehen. Die Kehrseite dieses Mißverständnisses des Sinnes der platonischen Dialektik und vielleicht der Dialektik überhaupt ist die abschätzige Beurteilung der Stellung des Aristoteles zur Dialektik. Es ist ein Gemeinplatz in der Philosophiegeschichte geworden, daß man sagt, Aristoteles habe die platonische Dialektik nicht mehr verstanden und zu einer bloßen Technik des schließenden Denkens herabgezogen6.

Erst neuerdings hat man wieder betont, Aristoteles habe das Wort »Dialektik« seiner hohen platonischen Würde entsetzt. Nun, solche Dikta, die ja philosophisch nicht viel bedeuten, entspringen einer romantischen Auffassung der Philosophie. Der Satz ist zutreffend, wenn man nur die rechte Begründung hinzunimmt, aber nicht, wenn sich dahinter ein romantisches Bedauern verbirgt. Aristoteles hat die Dialektik ihrer Würde entsetzt, nicht, weil er sie nicht mehr verstand, sondern, weil er sie radikaler verstand, weil er Plato selbst erfaßte als mit seiner Dialektik unterwegs zum θεωρεῖν, weil es ihm gelang, das, was Plato anstrebte, selbst wirklich zu machen. Aristoteles sah die immanenten Grenzen der Dialektik, weil er radikaler philosophierte Durch diese Begrenzung der platonischen Dialektik wurde er zugleich in den Stand gesetzt, ihr ihr relatives Recht zurückzugeben. Das konnte er allerdings nur, weil er verstand, welche Funktion der λόγος und das διαλέγεσθαι innerhalb der wissenschaftlichen Betrachtung und überhaupt innerhalb der menschlichen Existenz hat. Nur aus einem positiven Verständnis des Phänomens des λέγειν innerhalb des Lebens, wie wir es in seiner »Rhetorik« finden, gewann Aristoteles den Boden, das λέγεσθαι ganz konkret zu interpretieren und dadurch das διαλέγεσθαι schärfer zu sehen.


6 s. Anhang.

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