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Vorbemerkungen zur Interpretation des »Sophistes«

zu lassen. Das ist heute eine Phrase geworden. Aber die Verpflichtung, die man mit diesem Anspruch übernimmt, ist doch meist nicht verstanden. Denn es genügt nicht, daß man ein möglichst großes Textmaterial aufführt und nicht sagt, was nicht im Text steht. Dadurch ist nicht gewährleistet, daß man auch nur das Geringste verstanden hat. Sondern in diesem Anspruch, den Text selbst für sich sprechen zu lassen, liegt die Aufgabe, die Sachen, von denen gesprochen wird, nicht erst gewissermaßen festzunageln, sondern sich diese Sachen vorgeben zu lassen aus einem weiterdringenden Verständnis. Es liegt in diesem Anspruch, die Texte selbst sprechen zu lassen, die Verpflichtung, im Verständnis der sachlichen Problematik grundsätzlich weiter zu sein als das, was Gegenstand der Interpretation ist. Hat man diesen Sinn dieses Anspruchs verstanden, dann hat man ohne weiteres die entsprechende Gelegenheit zur Bescheidenheit. Denn dieses Weitersein kann für uns nicht heißen: soweit ich die Lage beurteilen kann, kann nicht heißen: überlegen sein gegenüber griechischer wissenschaftlicher Philosophie, sondern kann nur heißen: verstanden haben, daß wir uns in das Dienstverhältnis gegenüber diesen Forschungen zu begeben haben, um an ihrer Leitung überhaupt erst den Versuch zu machen, die immanenten Tendenzen herauszuhören, sie in ursprünglicherer Durcharbeitung zu ergreifen und festzuhalten und so den Boden fester zu legen, auf dem sich die Diskussion der Sachen abzuwickeln hat.

Wenn man αλήθεια liest und επιστήμη usw., so genügt es nicht, daß man in terminologischen Anklängen an Wortbegriffe von Wahrheit, Wissenschaft, Schein, Täuschung, Satz und dergleichen spricht, und auch nicht, daß man - was man gern für sachliche Interpretation hält - alles in Unbestimmtheit läßt, daß man das unverstandene Ende zu Hilfe nimmt, um den nicht zugeeigneten Anfang oder sonst welches Stück, eine Stelle durch die andere zu erklären, auch nicht, daß man aus anderen Dialogen Stellen herholt, die über dasselbe The­ma sprechen, Plato aus Plato, Aristoteles aus Aristoteles versteht