§53. Die Begründung der Rhetorik als positiver Möglichkeit des menschlichen Daseins (»Phaidros», zweiter Teil, 259e-274a)


a) Das Sehen der Wahrheit als Möglichkeitsbedingung der Rhetorik


α) Die Frage nach der Möglichkeitsbedingung der Rhetorik. εΐδέναι τό αληθές, δόξαντα πλήθει. όρθότης


Die Fragestellung im zweiten Teil des »Phaidros« wird deut­lich 259e1 sq: σκεπτέον, »es ist nachzusehen und ins Auge zu fassen« der λόγος, und zwar ὅπῃ καλῶς ἔχει λέγειν τε καὶ γράφειν καὶ ὅπῃ μή, - der λόγος als Sich-Aussprechen im weitesten Sinne, gewissermaßen als Sich-Veröffentlichen, ist daraufhin nachzusehen, »wie man in der rechten Weise redet und schreibt und in welcher Weise nicht«. Zu beachten ist die weite Fassung, die hier dem λόγος gegeben wird, weshalb ich das Phänomen charakterisiere durch die Bestimmung des Sich-Veröffentlichens, des Sich-Mitteilens-Anderen. Gefragt ist nach der Bedingung der Möglichkeit des καλῶς λέγειν τε καὶ γράφειν bzw. des μὴ καλῶς. Es besteht also auch die Absicht, die Bedingung der Möglichkeit der täuschenden Mitteilung, der unechten, der ἀπατη, herauszustellen. Die grundsätzliche Antwort auf die Frage nach der Bedingung des rechten Sich-Aussprechens wird e4 sqq gegeben: ὑπάρχειν δεῖ τοῖς εὖ γε καὶ καλῶς ῥηθησομένοις τὴν τοῦ λέγοντος διάνοιαν εἰδυῖαν τὸ ἀληθὲς ὧν ἂν ἐρεῖν πέρι μέλλῃ. Die διάνοια, das Erfassen und Bestimmen im weitesten Sinne, des Seienden, wie es der λέγων, »der Sich-Aussprechende« vollzieht, δεῖ ὑπάρχειν, »muß in einer solchen Verfassung vorhanden sein«, daß sie ist εἰδυῖαν τὸ ἀληθὲς ὧν ἂν ἐρεῖν πέρι μέλλῃ. είδώς, εΐδέναι, meist übersetzt mit Wissen, gehört zu lat. videre, sehen. Die διάνοια »muß sich in einer solchen Verfassung befinden, daß sie im vorhinein schon gesehen hat« τὸ ἀληθὲς ὧν ἂν ἐρεῖν πέρι μέλλῃ, »das Seiende, worüber sie sprechen will, in seiner Unverborgenheit«. Ich muß Sie bitten,


Martin Heidegger (GA 19) Platon Sophistes p. 323