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§ 10. Antikritische Fragen

rung von Erkenntnissen kann ins Endlose gehen, sie wird nie zur Beantwortung der Frage, was denn das Psychische sei, und diese Frage ist die konkrete und wesentliche der Wissenschaft selbst. Freilich geht der Weg der Wissenschaft, jeder, meist so, daß sie zunächst in einem naiven Anlauf sich auf ein umgrenztes Gebiet gleichsam stürzt und dort erste Feststellungen von relativer Geltung macht, aber dann bedarf sie des philosophischen Vordringens, des grundsätzlichen Klär ens des Feldes, um dessen Untersuchung es sich handelt, und dann erst ist die Wissenschaft eigentlich in ihren Gang gebracht - und sie bleibt im Gang nur dann, wenn eine solche Wissenschaft immer wieder es versteht, die philosophische Bewegung zu machen, d. h. nach ihrem Feld erneut zu fragen und die Grundbegriffe zu revidieren. Man hat die Kritik des Psychologismus und die Husserls im besondern vollständig mißverstanden, wenn man eine Animosität gegen Experimentalpsychologie herausgelesen hat. Diese Untersuchungen haben ihr Recht und ihre Aufgaben, haben aber mit Philosophie nichts zu tun, so wenig und so viel wie die Physik. Es bedurfte also der grundsätzlichen Besinnung auf das thematische Feld der Psychologie.

Husserl hat einmal vor Jahren in seiner Freiburger Antrittsrede - als Nachfolger Rickerts 1916 - die Aufgaben der Philosophen mit der des Galilei in der Naturwissenschaft verglichen. Der Laie verstand diese Darlegungen natürlich nur in dem Sinne: Husserl vergleicht sich mit Galilei und möchte sich als großer Mann präsentieren. Nun, eitel sind wir Gelehrten ja alle mehr oder minder und die Philosophen ganz besonders; auch die wirklichen machen oft diesen Anschein, weil sie gerade nicht reden von den Verzweiflungen, von denen sie gejagt werden. Aber sich mit Galilei zu vergleichen, war gewiß nicht der Sinn dieser Rede, die freilich, wie vieles andere, nicht gedruckt ist. Die Absicht war zu zeigen, daß Galilei nur dadurch Begründer der modernen Naturwissenschaft wurde, daß er als Physiker Philosoph war; experimentiert mit der Natur hat man schon vor ihm; gesehen, daß Bewegung ihre Grundbestimmung


Martin Heidegger (GA 21) Logik Die frage nach der Wahrheit

GA 21