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Das Wahrheitsproblem bei Aristoteles

abgegrenzt; gegen welche? Aristoteles deutet das kurz an, indem er den zitierten Satz fortfuhrt: οὐκ ἐν ἅπασι δὲ ὑπάρχει, οἷον ἡ εὐχὴ λόγος μέν, ἀλλ’ οὔτ’ ἀληθὴς οὔτε ψευδής. (17 a 4) »Aber nicht in allen Weisen der Rede ist das Wahr- und Falschsein vorhanden; so ist z. B. das Bitten ein Reden, aber weder wahr noch falsch.« Aristoteles sieht hier eine reiche Mannigfaltigkeit von anderen Weisen der Rede, ohne sie zu nennen, dahin gehören das Wünschen, Befehlen, Fragen. Aristoteles bemerkt nur, die angemessene Disziplin für die Untersuchung derselben sind ῾ρητορικὴ ἢ ποιητική — Rhetorik oder Poetik.4 Reden wie: »Reich mir bitte die Schere!« oder »Raus aus der Wiese!« oder »War heute noch Sturm?« — sind keine Aussagen, weil weder wahr noch falsch. Diese Scheidung des Aristoteles innerhalb den Mannigfaltigkeit der Reden ist nicht immer festgehalten, sondern heftig bestritten worden; z. B. von Bolzano5 und in gewisser Weise auch von Husserl, so daß also auch in den genannten Wunsch-, Befehls- und Fragesätzen ein Aussagecharakter liegen soll.

Die Frage ist bis heute strittig — und die klare Lösung derselben ist doch, wie man leicht sieht, eine Grundvoraussetzung



4 ὁ δὲ ἀποφαντικὸς τῆς νῦν θεωρίας (17 a 6). Der aussagende λόγος ist aber Gegenstand, Thema der jetzt durchzuführenden Betrachtung.

5 Vgl. »Wissenschaftslehre« Bd. 1, § 22, S. 87 ff. Er sagt : » So behauptet selbst schon Aristoteles, de interpretatione Kap. 4, eine Bitte, εΰχή, sei kein Satz, weil sie weder wahr noch falsch sei. Meiner Ansicht nach sind auch bloße Fragen, Wünsche, Bitten u, dgl., selbst bloße Ausrufungen nach dem Sinne, den sie durch den Zusammenhang erhalten für wirkliche, wenngleich zuweilen sehr unbestimmt ausgedrückte Sätze zu erklären. Eine Frage z. B. wie: In welchem Verhältnisse steht der Durchmesser eines Kreises zu seinem Umfang? sagt freilich über das, worüber sie fragt, nichts aus. Darum sagt sie aber gleichwohl noch etwas aus, unser Verlangen nämlich, über den Gegenstand, wonach wir fragen, eine Belehrung zu erhalten. Sie kann eben deshalb auch beides, wahr oder falsch sein. Das letztere ist sie, wenn jenes Verlangen durch sie unrichtig angegeben wird, z. B. wenn derjenige, der die obige Frage aufgeworfen hätte, im Grunde nicht dieses Verhältnis selbst zu erfahren wünschte, in welchem Falle er nämlich die Frage ganz anders hätte abfassen sollen. ..«

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