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§ 18. Idee der Wahrheit und Begriff des Seins

möglichen Entdecktheit seiner selbst. Damit die Natur sei, wie sie ist, bedarf sie nicht der Wahrheit, d. h. der Enthülltheit. Der in dem wahren Satz gemeinte Bestand ›2 mal 2 = 4‹ kann in alle Ewigkeit bestehen, ohne daß es darüber eine Wahrheit gibt. Sofern es eine Wahrheit darüber gibt, versteht diese gerade das, daß das in ihr Gemeinte nicht von ihr in seinem So-sein abhängt. Daß es aber ewige Wahrheiten gäbe, bleibt solange eine willkürliche Annahme und Behauptung, als nicht absolut evident bewiesen ist, daß seit Ewigkeit her und in alle Ewigkeit so etwas wie menschliches Dasein existiert, das seiner Seinsverfassung nach Seiendes enthüllen und als enthülltes sich aneignen kann. Der Satz ›2 mal 2 = 4‹ als wahre Aussage ist nur solange wahr, als Dasein existiert. Wenn grundsätzlich kein Dasein mehr existiert, gilt der Satz nicht mehr, nicht weil der Satz als solcher ungültig ist, nicht weil er falsch geworden wäre und 2 mal 2 =4 sich geändert hätte in 2 mal 2=5, sondern weil Entdecktheit von etwas als Wahrheit nur existieren kann mit dem entdeckenden existierenden Dasein. Es gibt gar keinen Rechtsgrund, ewige Wahrheiten vorauszusetzen. Noch überflüssiger ist es, daß wir sogar voraussetzen, es gäbe dergleichen wie Wahrheit. Eine heute beliebte Erkenntnistheorie meint, wir müßten gegenüber dem Skeptizismus vor aller Wissenschaft und Erkenntnis die Voraussetzung machen, daß es Wahrheit gäbe. Diese Voraussetzung ist überflüssig, denn sofern wir existieren, sind wir in der Wahrheit, wir sind uns selbst und innerweltliches Seiendes, das wir nicht sind, ist uns zugleich in irgendeiner Weise enthüllt. Ausmaß und Grenze der Enthülltheit ist in diesem Falle gleichgültig. Nicht wir brauchen vorauszusetzen, daß es irgendwo ›an sich‹ eine Wahrheit gäbe als irgendwo schwebenden transzendenten Wert oder gültigen Sinn, sondern die Wahrheit selbst, d. h. die Grundverfassung des Daseins, setzt uns voraus, ist die Voraussetzung für unsere eigene Existenz. Wahrsein, Enthülltheit ist die Grundbedingung dafür, daß wir so sein können, wie wir als Dasein existieren. Die Wahrheit


Martin Heidegger (GA 24) Die Grundprobleme der Phänomenologie