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§ 20. Zeitlichkeit und Temporalität


in der ich frei existiere. Das Wesentliche des Verstehens als Entwurf liegt darin, daß in ihm das Dasein sich selbst existenziell versteht. Sofern der Entwurf enthüllt, ohne das Enthüllte als solches zum Gegenstand der Betrachtung zu machen, liegt in allem Verstehen eine Einsicht des Daseins in sich selbst. Diese Einsicht ist aber kein freischwebendes Wissen um sich selbst. Das Wissen der Einsicht hat nur so weit echten Wahrheitscharakter, d. h. es enthüllt die von ihm zu enthüllende Existenz des Daseins nur dann angemessen, wenn es den primären Charakter des Sichverstehens hat. Das Verstehen als Sichentwerfen ist die Grundart des Geschehens des Daseins. Es ist, wie wir auch sagen können, der eigentliche Sinn des Handelns. Durch das Verstehen ist das Geschehen des Daseins charakterisiert: seine Geschichtlichkeit. Das Verstehen ist keine Art des Erkennens, sondern die Grundbestimmung des Existierens. Wir bezeichnen es auch als das existenzielle Verstehen, sofern sich in ihm die Existenz als Geschehen des Daseins in seiner Geschichte zeitigt. In und durch dieses Verstehen wird das Dasein, was es ist, und es ist jeweilig nur das, als was es sich gewählt hat, d. h. als was es sich selbst im Entwurf seines eigensten Seinkönnens versteht.

Das muß genügen, um den Begriff des Verstehens nach seinem konstitutiven Charakter für die Existenz des Daseins zu kennzeichnen. Es entsteht mm die Aufgabe, dieses Verstehen, sofern es das Existieren konstituiert, in seiner Möglichkeit aus der Zeitlichkeit aufzuhellen und es zugleich gegen das Verstehen abzugrenzen, das wir im engeren Sinne als Seinsverständnis überhaupt kennzeichnen. Das zur Existenz gehörige Verstehen entwirft das Dasein auf seine Möglichkeiten. Weil das Dasein wesenhaft In-der-Welt-sein ist, enthüllt der Entwurf jeweils eine Möglichkeit des In-der-Welt-seins. Das Verstehen ist in seiner Enthüllungsfunktion nicht auf einen isolierten Ichpunkt bezogen, sondern auf das faktisch existierende In-der-Welt-seinkönnen. Darin liegt: Mit dem Verstehen ist immer schon ein bestimmtes mögliches Sein mit den


Martin Heidegger (GA 24) Die Grundprobleme der Phänomenologie