VORBETRACHTUNG
Die Absicht der Vorlesung geht dahin, ein philosophisches Verständnis von Kants Kritik der reinen Vernunft zu gewinnen, und das heißt philosophieren zu lernen. In einer kurzen Vorbetrachtung verständigen wir uns über die wesentlichen Erfordernisse für die Verwirklichung dieser Absicht. Es sind deren zwei: Erstens bedarf es eines Wissens darum, was es heißt, eine überlieferte Philosophie zu verstehen, und zweitens bedarf es einer vorläufigen Kenntnis der Mittel und Wege, ein solches Verständnis zu gewinnen.
Zum ersten Punkt: Kant sagte einmal gesprächsweise in seinen letzten Lebensjahren: »Ich bin mit meinen Schriften um ein Jahrhundert zu früh gekommen; nach hundert Jahren wird man mich erst recht verstehen und dann meine Bücher aufs neue studieren und gelten lassen!«1 Spricht hier nun eitles Sichwichtignehmen oder gar die verärgerte Resignation des Unerkanntseins? Nichts dergleichen, beides ist Kants Charakter fremd. Was sich in dem angeführten Wort ausspricht, ist Kants lebendiges Verständnis der Art und Weise, wie Philosophie sich verwirklicht und auswirkt.
Philosophie gehört zu den ursprünglichsten menschlichen Bemühungen. Von diesen bemerkt Kant: »Indessen drehen sich die menschlichen Bemühungen in einem beständigen Zirkel und kommen wieder auf einen Punkt, wo sie schon einmal gewesen sein; alsdenn können Materialien, die jetzt im Staube liegen, vielleicht zu einem herrlichen Baue verarbeitet werden.«2 Gerade die ursprünglichen menschlichen Bemühungen haben ihre Beständigkeit darin, daß sie ihre Fraglichkeit nie ablegen, daß sie auf denselben Punkt deshalb zurückkommen und einzig darin ihre Kraftquelle finden. Ihre Beständigkeit liegt nicht in
1 Varnhagen von Ense, Tagebücher 1,8.46
2 Kants Antwort an Garve, Proleg. ed. Vorländer; 8.194