173
§ 10. Das Problem von Sein und Zeit

6. Das Dasein überhaupt birgt die innere Möglichkeit für die faktische Zerstreuung in die Leiblichkeit und damit in die Geschlechtlichkeit. Die metaphysische Neutralität des innerlichst isolierten Menschen als Dasein ist nicht das leere Abstraktum aus dem Ontischen, ein Weder-noch, sondern das eigentlich Konkrete des Ursprunges, das Noch-nicht der faktischen Zerstreutheit. Das Dasein ist als faktisches je unter anderem in einen Leib zersplittert und ineins damit unter anderem je in eine bestimmte Geschlechtlichkeit zwiespältig. — Zersplitterung, Zerspaltung, das klingt zunächst negativ, (so wie ›Zerstörung‹), mit diesen negierenden Begriffen verknüpft sich, ontisch genommen, sofort das Bedeutungsmoment des Unwertigen. Hier aber bandelt es sich um etwas anderes: um die Kennzeichnung der Mannigfaltigung (nicht ›Mannigfaltigkeit‹), die je in jedem vereinzelten faktischen Dasein als solchem liegt; nicht etwa um die Vorstellung, daß ein großes Urwesen in seiner Einfachheit ontisch zerspaltet wird in viele Einzelne, sondern um die Aufhellung der inneren Möglichkeit der Vermannigfaltigung, die, wie wir noch genauer sehen werden, in jedem Dasein selbst liegt, und für die die Leiblichkeit einen Organisationsfaktor darstellt. Die Mannigfaltigkeit ist aber auch nicht bloße formale Mehrheit von Bestimmtheiten, sondern Mannigfaltigkeit gehört zum Sein selbst. Mit anderen Worten: zum Wesen des Daseins überhaupt gehört seinem metaphysisch neutralen Begriff nach schon eine ursprüngliche Streuung, die in einer ganz bestimmten Hinsicht Zerstreuung ist. Hierzu ein roher Hinweis: Das Dasein verhält sich als existierendes nie je nur zu einem Objekt, und wenn, dann nur in der Weise des Absehens von zuvor und zugleich immer miterscheinenden anderen Seienden. Diese Mannigfaltigung geschieht nicht dadurch, daß es mehrere Objekte gibt, sondern umgekehrt. Das gilt auch für das Verhalten zu ihm selbst, und zwar gemäß der Struktur der Geschichtlichkeit im weitesten Sinne, sofern Dasein als Erstreckung geschieht. Eine andere wesentliche Möglichkeit der faktischen Zerstreuung des Daseins


Martin Heidegger (GA 26) Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz