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Wahrheit und Sein

Die Offenbarkeit des Seienden an ihm selbst jedoch wird uns eindringlich, wenn wir dieses Faktum negativ umschreiben und sagen: Dieses Seiende, so wie es hier in diesem Bewandtniszu-sammenhang an ihm selbst vorhanden ist, ist uns nicht verbor-gen, was es doch sein könnte; es ist an ihm selbst unverborgen. Weil es das ist, können wir Aussagen darüber machen und diese auch nachprüfen. Die Offenbarkeit des Seienden ist eine Un-verborgenheit. Unverborgenheit heißt wirklich im Griechi-schen ἀλήθεια, was wir nichtssagend genug mit Wahrheit zu übersetzen pflegen. Wahr, d.h. unverborgen ist das Seiende selbst, wodurch und wie ist eine weitere Frage. Also nicht der Satz und nicht die Aussage über das Seiende, sondern das Sei-ende selbst ist »wahr«. Nur weil das Seiende selbst wahr ist, können Sätze über das Seiende in einem abgeleiteten Sinne wahr sein.

In der Tradition der Metaphysik im Mittelalter gibt es aber auch eine Auffassung der Wahrheit — veritas —, wonach sie dem Seienden selbst, dem ens zukommt. Eine These lautet: omne ens est verum, jedes Seiende ist wahr. Dieser Satz hat aber einen ganz anderen Sinn, nämlich daß jedes Seiende, sofern es ist, von Gott geschaffen ist; sofern es aber von Gott geschaffen ist, ens creatum, muß es von Gott gedacht sein. Sofern es von Gott als dem, der nicht irrt, von der absoluten Wahrheit gedacht ist, ist es als von Gott Gedachtes wahr. Weil jedes Seiende geschaffenes ist, ist es als Seiendes ein Wahres, verum qua cogitatum a Deo. Dieser Begriff der Wahrheit des Seienden beruht also auf ganz anderen Voraussetzungen als in unserer Exposition der Wahr-heit.

Wahrheit besagt also Unverborgenheit; die Griechen, diese leidenschaftlich Philosophierenden, haben im Begriff dessen, was als das Positivste und mit als höchstes Gut gilt, im Begriff der Wahrheit, eine negative Bestimmung, ein α-privativum.


Martin Heidegger (GA 27) Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz