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Zweideutigkeit im Wesen der Philosophie

gibt sich wie Verkündigung einer Weltanschauung und ist es gleichfalls nicht. Diese zwei Arten des Scheins, des Soaussehens-wie, verbünden sich, und dadurch gewinnt das Zweideutige erst seine Aufdringlichkeit. Wenn die Philosophie im Schein der Wissenschaft steht, dann werden wir auch auf Weltanschauung verwiesen. Philosophie sieht so aus wie die wissenschaftliche Begründung und Darstellung einer Weltanschauung und ist doch etwas anderes.

Dieser doppelte Schein der Wissenschaft und der Weltanschauung erzeugt der Philosophie eine ständige Unsicherheit. Einmal sieht es so aus, als könnte man für sie nicht genug wissenschaftliche Kenntnisse und Erfahrung beibringen — und doch ist dieses >Nie-genug< an wissenschaftlichen Kenntnissen im entscheidenden Moment immer zuviel. Andererseits fordert die Philosophie — so sieht es zunächst aus —, ihre Erkenntnisse gleichsam praktisch anzuwenden und ins faktische Leben zu verwandeln. Aber immer auch zeigt sich, daß dieses moralische Bemühen dem Philosophieren äußerlich bleibt. Es sieht so aus, als ließe sich schaffendes Denken und weltanschaulich-moralisches Bemühen zusammenschweißen, um die Philosophie zu ergeben. Weil man die Philosophie zumeist nur in diesem zweideutigen Doppelgesicht als Wissenschaft und als Weltanschauungsverkündigung kennt, versucht man, dieses Doppelgesicht nachzubilden, um ihr ganz gerecht zu werden. Das erzeugt dann jene Zwittergebilde, die ohne Mark, Knochen und Blut ein literarisches Dasein fristen. Es entsteht so eine wissenschaftliche Abhandlung mit angehängten oder dazwischengestreuten moralisierenden Anweisungen, oder es entsteht eine mehr oder minder gute Predigt unter Verwendung von wissenschaftlichen Ausdrücken und Denkformen. Beides kann so aussehen wie Philosophie und ist doch keine. Oder aber umgekehrt: Es kann sich etwas als streng wissenschaftliche Abhandlung geben, trocken, schwer, ohne jeden moralisierenden Nebenton und Hinweis auf Weltanschauliches, bloße Wissenschaft — und ist doch durch und


Martin Heidegger (GA 29/30) Die Grundbegriffe der Metaphysik