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§ 31. Konkrete Interpretation der tiefen Langeweile

Zeit. Aber jetzt in der dritten Form? Wenn schon das Ansagen der versagten Möglichkeiten mit der spezifischen Hingehaltenheit dieser dritten Form zu tun hat, von der Zeit ist hier nichts zu finden. Wie denn überhaupt diese dritte Form der Langeweile nichts von einer ausgesprochenen Zeitbezogenheit an sich hat -weder ein Zögern der Zeit noch das Verbringen einer bestimmten Zeit, die wir uns lassen. Man ist fast eher versurot zu sagen: Bei diesem ›es ist einem langweilig‹ ist einem zeitlos zumute, man fühlt sich herausgehoben aus dem Fluß der Zeit.

So sieht es in der Tat aus, und es wäre verkehrt, diesen Aspekt der Zeitferne in dir Langeweile irgendwie zu verwischen und vorschnell einer bestimmten Theorie zuliebe zu mißdeuten. Wohl aber müssen wir uns an das Bisherige wirklich erinnern, und dabei erst muß sich 'die Bedeutung der bisherigen Erörterungen auswirken.

Wir erinnern uns, daß wir jedesmal, wenn wir in die Zeitstruktur der Langeweile einzudringen versuchten, erfahren mußten, daß wir mit der vulgären Auffassung der Zeit als eines Abfließens der Jetztpunkte nicht durchkommen. Zugleich aber ergab sich: Je näher wir dem Wesen der Langeweile kommen, um so aufdringlicher wird ihre Verwurzelung in der Zeit, was uns in der Überzeugung bestärken mußte, daß die Langeweile nur aus der ursprünglichen Zeitlichkeit begriffen werden kann. Nun, wo wir uns in die Wesenstiefe der Langeweile vorzuarbeiten versuchen, zeigt sich überhaupt nichts von der Zeit — gleich als seien wir von der Nähe des Wesens der Langeweile geblendet. So ist es in der Tat, und nicht etwa nur hier bei dieser bestimmten Stimmung der Langeweile. Bei aller Interpretation des Wesenhaften in jeglichem Gebiet und Feld des Daseins kommt die Stelle, an der alle Kenntnisse und insbesondere alles literarische Wissen nichts mehr hilft. Wir mögen noch so fleißig zusammenscharren, was Frühere schon gesagt haben, es hilft uns nicht, wenn wir nicht die Kraft der Einfachheit des Wesensblickes aufbringen — gerade da, wo es so aussieht, als gäbe es nichts mehr zu sehen und zu fassen. So


Martin Heidegger (GA 29/30) Die Grundbegriffe der Metaphysik