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§ 9. Sein, Wahrheit, Anwesenheit

daß hier sogar das ὂν ἀληθές, das Wahrseiende, als das 
eigentlichste Seiende eingeführt wird, also als das Seiende, das 
noch eigentlicher seiend ist als das ἐνεργείᾳ ὄν, was allem Bisherigen 
und von Aristoteles Bekannten widerspricht.
Wir sehen, wie anhand der Textfrage der Zugehörigkeit dieses 
Schlußkapitels über das Wahrsein zum Buch Θ zugleich das sachliche 
Problem, d. h. die Frage nach der Bedeutung des Wahrseins 
selbst, heraustritt, näherhin die Frage der Zusammengehörigkeit 
des Seins qua Wahrsein mit dem Sein qua Wirklichsein. 
Allein, für die traditionelle und gerade auch die jüngste Auslegung 
und Behandlung dieses Kapitels 10 liegt hier überhaupt 
kein Problem vor, weil keines vorliegen kann. Denn, das weiß 
doch jeder Anfänger in der Philosophie, das Problem der Wahrheit 
gehört in die Logik und nicht in die Metaphysik und vollends 
gar in die Abhandlung, die das Grundproblem der Metaphysik 
zum Thema hat. Aus solchen Überlegungen heraus 
schreibt Schwegler, dem wir einen philosophisch wertvollen, von 
Hegel her geschulten Kommentar zur aristotelischen »Metaphysik« 
verdanken, ganz spontan: »Dieses Capitel gehört nicht hie-her«.7 
Werner Jaeger, dem wir eine sehr verdienstvolle Untersuchung 
über die Komposition der aristotelischen »Metaphysik« 
verdanken8, hält diese Auffassung Schweglers für überzeugend. 
»Mithin bleibt es dabei, daß das Kapitel zusammenhanglos dasteht.«9
Jaeger meint allerdings trotzdem im Unterschied von
Schwegler, Aristoteles selbst habe, unbeschadet der Zusammenhanglosigkeit
mit dem ganzen Buch, dieses »Anhängsel« angefügt.

7 A. Schwegler: Aristoteles, Metaphysik. 4 Bde., 1846-47. Unveränderter Nachdruck, Frankfurt am Main (Minerva) 1960. Bd. IV, S. 186.

8 W. Jaeger, Studien zur Entwicklungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles. Berlin 1912. Vgl. auch W. Jaeger, Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung. Berlin 1923. Dort auf frühere Un-tersuchungen verwiesen. S. 211 ff.

9 W. Jaeger, Studien zur Entwicklungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles. S. 53.