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§ 9. Sein, Wahrheit, Anwesenheit

sich umgekehrt wundern, wenn das κυριώτατον nicht dastände. 
Zugleich dürfte deutlich geworden sein, daß die Art, wie Aristoteles 
hier das Problem des Wahrseins aufrollt, mit Logik und 
Erkenntnistheorie nichts zu tun hat. Die Frage nach dem Wahrsein
des Seienden als Seienden entfaltet sich als die Grundfrage
nach dem eigentlichen Sein des Seienden selbst. Als diese Frage 
steht sie im innersten Zusammenhang mit dem, was im ganzen 
Buch Θ, in den vorausgehenden Kapiteln behandelt wird. Nur 
noch ein Hinweis auf den positiv eindeutigen Zusammenhang 
von Θ 10 mit Θ, um nicht die Meinung aufkommen zu lassen, 
als sei zwar Θ 10 mit Θ nicht ganz zusammenhanglos, aber doch 
eben nicht eigentlich zusammengehörig. Im Buch Θ sind δύναμις 
und ἐνέργεια Thema, Möglichkeit und Wirklichkeit als Grundweisen 
des Seins. Es wird gezeigt, daß das eigentliche Sein die 
ἐνέργεια ist. Dasjenige Seiende ist eigentlich Seiendes, was jede 
Möglichkeit, jedes erst noch Eintreffende und jedes Ausbleibende 
von sich aus ausschließt, überhaupt jede Möglichkeit des Anderswerdens. 
Wir pflegen zu sagen, damit etwas wirklich soll sein 
können, muß es überhaupt möglich sein. Die Möglichkeit ist also 
das Erste und früher, vor der Wirklichkeit. Aristoteles behauptet 
dagegen: πρότερον ἐνέργεια δυνάμεώς ἐστιν.42 Früher und ursprünglicher 
als die Möglichkeit ist die Wirklichkeit. Das ist freilich 
nur zu behaupten aus dem spezifisch antiken Ansatz des 
Seinsproblems und der antiken Grundauffassimg der Wahrheit 
als Entborgenheit. Dies ist jetzt nicht zu erörtern. Nur das eine 
sei noch gesagt: Wir sehen in Θ 10, daß dort ein Grundstück der 
ganzen thematischen Behandlung erörtert wird, die wachsende 
Ausschaltung der Möglichkeit der Unwahrheit von der Wahrheit, 
um so diese im eigentlichsten Sinne zu fassen. In Θ 10 konzentriert
sich die radikale und radikalste Fassung des Grundproblems
von Θ. Mit einem Wort: Das Kapitel Θ 10 ist kein 
nicht dazugehöriges Anhängsel, sondern der innerlich notwendige 
Schlußstein des ganzen Buches Θ, das selbst das zentralste 
der ganzen »Metaphysik« ausmacht.

42 a.a.O., Θ 8,1049 b 5.