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Met. Θ 3. Die Wirklichkeit der δύναμις κατὰ κίνησιν

möglich sein, dann nur so, daß εἶναι und ειναι hier je in verschiedener Hinsicht gemeint ist. Das trifft zu. Wir haben das in der Übersetzung zum Ausdruck gebracht. Schon in den vorausgehenden Betrachtungen drückten wir das so aus, daß wir das Sein der δύναμις qua δύναμις als >Wirklichkeitfaßten und das Sein im Sinne der Wirklichkeit dessen, wozu das Vermögende vermögend ist, als ›Verwirklichung‹. Das Verwirklichte hat dabei gleichfalls Wirklichkeit.

Aristoteles leitet den Gedanken ein mit einem ωστε: so also kann der Fall eintreten, nämlich wenn der Andersartigkeit von δύναμις und ἐνέργεια Rechnung getragen wird. Was bedeutet das für die Auflösung der Leitfrage? Dem Unterschied von δύναμις und ἐνέργεια Rechnung tragen, heißt versuchen, die Wirklichkeit der δύναμις nicht schnurstracks zu ersetzen durch ἐνέργεια und so die δύναμις zu beseitigen, sondern zu sehen, daß und wie die δύναμις als solche ihre eigene Wirklichkeit hat. Dessen versichert sich Aristoteles zunächst durch den allgemeinen Satz, der dann sogleich durch ein Beispiel beleuchtet wird: Wir stoßen auf wirklich Seiendes, das zu gehen vermögend ist (δυνατὸν βαδίζειν ὄν), als dieses Vermögende ein Seiendes, ὄν, ist, aber gleichwohl noch nicht bzw. nicht mehr geht.

Mit diesem Hinweis begnügt sich Aristoteles. Aber dieses Hinweisen auf ein eigenständiges Phänomen ist zunächst das Entscheidende. Und wir dürfen nicht vergessen, daß Aristoteles bereits in der kritischen Auseinandersetzung einen wichtigen Fingerzeig gegeben hat; danach kann die rechte Auseinanderhaltung von δύναμις und ἐνέργεια nur geschehen unter vorheriger und ständiger Festhaltung der κίνησις. Was bedeutet das? Nichts Geringeres als: das Vorhandensein des Vermögenden als solchen in gleicher Weise wie die Wirklichkeit im Sinne des Vollzugs sind Weisen des In-Bewegung-seim, auf dieses in sich bezogen und nur von daher zu fassen.

Folgen wir dieser Anweisung; was gewinnen wir dann für die Klärung und Bestimmung der Wirklichkeit eines Vermögenden


Martin Heidegger (GA 33) Aristoteles Metaphysik IX 1-3

Aristotle's Metaphysics θ 1-3 pp. 185-186