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§ 6. Idee und Licht


mehr durch Augen und Gesichtssinn; ein Blicken, dessen Anblick nichts Farbiges hat, durch keine bloße Farbenzusammenstellung je erreichbar ist, überhaupt nichts Sinnliches mehr hat, — und doch sehen (vernehmen) wir dabei, in dem Sinne, daß wir uns zu solchem verhalten, das sich uns an-und darbietet.

Wenn wir so natürlich »wir sehen das Buch« sprechen, gebrauchen wir schon »sehen« in einer Bedeutung, die uns ganz selbstverständlich und geläufig ist, — über die wir erst stutzig werden, wenn man uns darauf aufmerksam macht. Und nichts anderes hat Platon getan mit der Entdeckung der sogenannten »Idee«. Als er die Ideen fand, war das nichts, was Platon sich in irgendeiner verstiegenen Spekulation ausgeklügelt hätte, sondern das, was jeder sieht und faßt, wenn er sich zum Seienden verhält. Platon hat darauf nur mit einer unerhörten Kraft und Sicherheit hingewiesen. Denn was wir da sehen, ein »Buch«, ist offenbar etwas anderes als »schwarz«, »hart«, »weich« usw. Das in diesem Sehen Gesichtete ist die ἰδέα, das εἶδος. »Idee« ist also der Anblick dessen, als was seiend sich etwas darbietet. Diese Anblicke sind es, worin das einzelne Ding als das und das sich präsentiert: präsent und anwesend ist. Anwesenheit heißt bei den Griechen παρουσία oder verkürzt οὐσία, und Anwesenheit bedeutet für die Griechen Sein. Etwas ist, das heißt: es ist anwesend, oder besser: es west an (müssen wir im Deutschen sagen), in der Gegenwart. Der Anblick, ἰδέα, gibt also das, als was ein Ding anwest, d. h. was ein Ding ist, — sein Sein.

Dies ist nach Aristoteles die δευτέρα οὐσία; die πρώτη aber ist das noch mehr Anwesende, — das καθ᾽ ἕκαστον1.

Wir sagten: nach Platon gibt es über das Seiende, die einzelnen Dinge (die Schatten) hinaus noch anderes: die Ideen. Wenn wir die vorige Betrachtung aufmerksam mitvollzogen haben und auf sie zurückblicken, dann muß sich eines gezeigt haben: daß wir selbst zu denen gehören oder bis zum vorigen Augenblick gehörten, die meinten, wir sähen eben so die einzelnen Dinge: Buch, Tür, Haus. Wir ahnten nichts davon, daß wir,


1 Metaphysik Z, Kap. 1. -Siehe Zusatz 5.


Martin Heidegger (GA 34) Vom Wesen der Wahrheit