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Das »Lehrgedicht« des Parmenides

jenachdem trifft, angelegt. Daher muß Bedeutung und Gewicht des Wortes immer bewährt und eingelöst werden durch die Erkenntnis des Wesens, die zugleich die beziehungsweise Berechtigung, ja, Notwendigkeit des Scheins verständlich macht. Das einzige Fragment, aus dem wir etwas über das δοξάζειν und zwar in seiner notwendigen Beziehung auf den Schein erfahren, ist das Fragment 16.



d) Vernehmen und Leiblichkeit


D 16


ὡς γὰρ ἑκάστοτ᾽ ἔχει κρᾶσιν μελέων πολυπλάγκτων,
τὼς νόος ἀνθρώποισι παρίσταται· τὸ γὰρ αὐτό
ἔστιν ὅπερ φρονέει μελέων φύσις ἀνθρώποισιν
καὶ πᾶσιν καὶ παντί· τὸ γὰρ πλέον ἐστὶ νόημα.

Denn wie jeweils das Vernehmen sich hält in einer Mischung des vielirrenden Leibes, so steht es den Menschen zur Verfügung, denn dieses (gemeine) Vernehmen ist dasselbe, was die Leiberschauung der Menschen bei allem und bei jedem bedenkt (vermeint). Denn das Mehr (Übergewicht) ist jeweils das Vernehmen. |

Hier zunächst klar gesagt: das Vernehmen geschieht in der Leiblichkeit. Diese ist ( 12, 4 f.) sich Mischendes und selbst Gemischtes, erscheint in Geburt und Tod und Zeugung und allem Tun irgendwie notwendig sinnlich, womit nicht etwa nur die Sinneswerkzeuge gemeint sind, sondern Sinnlichkeit, wie sie die ganze Gestimmtheit des Menschen, eben das, wie ihm jeweils ist, trägt und durchherrscht. Und nun sagt Parmenides hier: so wie das, was im Vermeinen Gemeinte, das Erscheinende jeweils aus Licht und Dunkel, Leichtem und Schwerem gemacht ist, so ist auch das Vermeinen jenachdem, entweder selbst gelichtet und licht und leicht, oder dumpf ungelichtet, schwer und schwerfällig; bei allem und jedem Einzelnen jeweils verschieden. Und das jeweilige Mehr an Licht oder Dunkel in der Leiblichkeit selbst bestimmt das Vernehmen und den möglichen Umkreis der Vernehmbarkeit.


Martin Heidegger (GA 35) Der Anfang der abendländischen Philosophie