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Grundstimmung der Dichtung und Geschichtlichkeit des Daseins

All das bleibt nur ein veränderter Kulturbetrieb und wird nie, was es sein soll, solange die Götter geflohen sind. Es wird nie Bild und Tempel durch Preisausschreiben, wenn der Gott tot ist. Es werden keine Priester, wenn die Blitze der Götter nicht schlagen, und sie schlagen nicht, wenn nicht die heimatliche Erde und ihr ganzes Volk als dieses in den Gewitterraum zu stehen kommt. Es wird aber nie in diesen Gewitterraum einrücken, solange es nicht als Ganzes in seinem geschichtlichen Dasein als solchem die innerste Not des Todes der Götter zur wesentlichen Erfahrung und zu einem langen Ausdauern bringt.



i) Das Ausdauern der Verlassenheit durch die Zweifelnden


So wie es zuerst, im Beginn der Götterflucht, den Priester trifft — gemeint sind natürlich nicht die Pfarrer —, so muß auch für eine neue Ankunft der Götter erst wieder ein Priester oder eine Priesterin getroffen werden, die verborgen und ungekannt den Boten der Götter erharren, damit ihnen Tempel, Bild und Sitte liebend folgen können. Geschieht das nicht, dann taumeln die Völker trotz Flugzeug und Radio und Stratosphäreneroberung rettungslos ihrem Ende entgegen. Soll es anders geschehen, dann muß erst die Götterlosigkeit des ganzen geschichtlichen Daseins erfahren, d. h. dieses muß solcher Erfahrung offen sein und, wenn es verschlossen ist, aufgeschlossen werden, und zwar durch diejenigen, die solches Fliehen der Götter wahrhaft durchdauern. Das sind die Zweifelnden, ihnen dämmert die Sage vom Gewesenen um das Haupt, und sie sind jene, deren keiner weiß, wie ihm geschieht, während die selbstsicheren und robusten Alleswisser auch immer wissen, was ihnen geschieht, da sie rechtzeitig dafür sorgen, daß ihnen überhaupt nichts geschehen kann.

Der Zweifel der Zweifelnden ist getragen vom echten Wissenwollen und hält stand dem wahren Nichtwissen. Im wahren Zweifel ereignet sich der Zusammenstoß des Wissens und


Martin Heidegger (GA 39) Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«