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§ 10. »Germanien« im Horizont des Heraklitischen Gedankens

Erst auf dem Grunde des Gesagten gewinnt nun jenes Wort Heraklits seinen eigentlichen Gehalt, das wie der Spruch vom Kampf als Vater aller Dinge meist gedankenlos nachgesprochen wird: πάντα ῥεῖ — »alles fließt«. Das meint nicht: alles ist fortgesetzt in Veränderung und ohne Bestand, vielmehr: auf keiner Seite allein als dieser kannst du dich festsetzen, sondern du wirst durch den Streit als Widerstreit auf die Gegenseite getragen, und erst im Hin und Her der Bewegung des Kampfes hat das Seiende sein Sein. Das Fließen meint hier nicht einfach die sture ständige Auflösung und Zernichtung der Dinge, sondern umgekehrt: Das Fließen des Widerstreites, und das heißt der widerstrittige Einklang, schafft gerade den Bestand und Beständigkeit, das Seyn. (Der Gegensatz zwischen Heraklit und Parmenides liegt nicht dort, wo man ihn gemeinhin sucht.)

Wenn aber dergestalt das Seiende nie einseitig gefaßt werden kann, dann ist die Nennung des Seienden und das Sagen des Seyns in einer eigentümlichen Schwierigkeit, vor allem dort, wo das Sein im Ganzen und in seinem Wesen gesagt und offenbar gemacht werden soll. Denn ein Wort nennt zwar ein Seiendes so und so, z. B. Fragment 67: Gott — der Krieg. Das Wort macht das Seiende offenbar. Aber zugleich verbirgt es auch, wenn wir uns an diese Nennung für sich halten. Denn der Gott ist ebenso ›Frieden‹. Daher ist das eigentliche, wesentliche Sagen von dem Seienden ureigenster Art, es ist ursprünglich die Art des Sagens, wie sie den Göttern eignet. Fragment 93:

ὀ ἄναξ, οὗ τὸ μαντεῖόν ἐστι τὸ ἐν Δελφοῖς, οὔτε λέγει οὔτε κρύπτει, ἀλλὰ σημαίνει.

»Der Herr, dessen Spruchort zu Delphi ist [Gott Apollo], sagt weder, noch verbirgt er, sondern winkt.« Das ursprüngliche Sagen macht weder nur unmittelbar offenbar, noch verhüllt es einfach nur schlechthin, sondern dieses Sagen ist beides in einem und als dieses Eine ein Winken, wo das Gesagte auf


Martin Heidegger (GA 39) Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«