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Das Reinentsprungene als Streit in der Mitte des Seyns

ben — sondern jenes mächtigste und immittelbarste Zeigen der Wege, das sich dadurch erwirkt, daß die Wege gegangen werden, das Dasein sich gründet.

Der Dichter meint nicht jenes Deutschland jener Dichter und Denker, wie sich die übrige Welt diese vorstellt und wünscht: die bloßen Träumer und Ahnungslosen, die dann im Entscheidenden leicht zu überreden sind und zum Narren für die Übrigen werden sollten; vielmehr jenes Dichten und Denken, das in die Abgründe des Seyns einbricht, sich nicht in den flachen Gewässern einer allgemeinen Weltvernunft begnügt, jenes Dichten und Denken, das im Werk das Seiende neu und anfänglich zur Erscheinung und zum Stehen bringt.



b) Der Wesensgegensatz des griechischen und des deutschen Daseins. Widerstreitende Innigkeit des Mitgegebenen und Aufgegebenen


Aber der Dichter weiß auch: Diese »Mitte der Zeit« (V. 103), diese Gegenwart, entspringt erst aus der echten Herkunft und der schöpferisch ergriffenen Zukunft auf dem Grunde der Erde. Diese Mitte der Zeit wird erst und wird nur, wenn die Freiheit und Inständigkeit des deutschen Wesens erstritten ist. Der Dichter weiß überdies und vor allem, daß dieses das Schwerste ist: >das Nationelle (wie er sagt) frei zu gebrauchen^ Hölderlin spricht darüber in jenem schon mehrfach beigezogenen Brief an seinen Freund Böhlendorff vom 4. 12. 1801, kurz vor der Wanderung nach Frankreich, von wo er ein halbes Jahr später als ein von Apollo Geschlagener — von dem Übermaß des Lichtes Getroffener — in die Heimat zurückkehrt. In das Jahr dieses Briefes fallen aber beide Dichtungen, »Germanien« sowohl wie »Der Rhein«. Die Stelle lautet (V, 319 f.):


»Wir lernen nichts schwerer als das Nationelle frei gebrauchen. Und wie ich glaube, ist gerade die Klarheit der Darstellung uns ursprünglich so natürlich, wie den Griechen das Feuer vom


Martin Heidegger (GA 39) Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«