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§ 22. Dreistärnmigkeit und Einheit von »sein«

gegangen? Oder sind wir gerade das, was wir waren? Werden wir nicht gerade nur das, was wir sind?

Die Betrachtung der bestimmten Verbalformen von »sein« bringt das Gegenteil einer Aufhellung des Seins. Sie führt überdies vor eine neue Schwierigkeit. Vergleichen wir den Infinitiv »sagen« und die Grundform »ich sage« mit dem Infinitiv [54] »sein« und der Grundform »ich bin«. Hierbei zeigen sich »sein« und »bin« als stammesmäßig verschiedene Wörter. Von beiden verschieden ist wiederum das »war« und »gewesen« in der Vergangenheitsform. Wir stehen vor der Frage nach den verschiedenen Stämmen des Wortes »sein«.


B. Die Etymologie des Wortes »Sein«


§ 22. Die Dreistärnmigkeit des Verbum »sein« und die Frage nach der Einheit


Zunächst gilt es, kurz zu berichten, was die Sprachforschung über die Wortstämme weiß, die in den Abwandlungen des Verbum »sein« vorkommen. Die jetzigen Kenntnisse darüber sind keineswegs endgültig; nicht so sehr deshalb, weil neue Tatsachen hinzukommen können, sondern weil zu erwarten steht, daß das bisher Bekannte mit neuen Augen und echterem Fragen durchgeprüft wird. Die ganze Abwandlungsmannigfaltigkeit des Verbum »sein« ist durch drei verschiedene Stämme bestimmt.

Die beiden zuerst zu nennenden Stämme sind indogermanisch und kommen auch im griechischen und lateinischen Wort für »sein« vor.

1. Das älteste und eigentliche Stammwort ist »es«, sanskrit »asus«, das Leben, das Lebende, das, was von ihm selbst her in sich steht und geht und ruht: das Eigenständige. Hierzu gehören im Sanskrit die verbalen Bildungen esmi, esi, esti, asmi. Dem entsprechen im Griechischen είμί und εἶναι, im Lateinischen


Martin Heidegger (GA 40) Einführung in die Metaphysik