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Grammatik und Etymologie von »Sein«

esum und esse. Zusammen gehören: sunt, sind und sein. Bemerkenswert bleibt, daß sich in allen indogermanischen Sprachen von Anfang an das »ist« (ἔστιν, est…) durchhält.

2. Der andere indogermanische Stamm lautet bhû, bheu. Zu ihm gehört das griechische φύω, aufgehen, walten, von ihm selbst her zu Stand kommen und im Stand bleiben. Dieses bhû wurde bisher nach der üblichen und äußerlichen Auffassung von φύσις und φύειν als Natur und als »wachsen« gedeutet. Von der ursprünglicheren Auslegung her, die aus der Auseinandersetzung mit dem Anfang der griechischen Philosophie stammt, erweist sich das »wachsen« als aufgehen, das wiederum vom Anwesen und Erscheinen her bestimmt bleibt. Neuerdings bringt man die Wurzel φυ- in den Zusammenhang mit φα-, φαίνεσθαι. Die φύσις wäre so das ins Licht Aufgehende, φΰειν, leuchten, scheinen und deshalb erscheinen (vgl. Zeitschrift für vergl. Sprachforschung, Bd. 59).

Desselben Stammes ist das lateinische Perfekt fui, fuo; ebenso unser deutsches »bin«, »bist«, wir »birn«, ihr »birt« (im 14. [55] Jahrh. erloschen). Länger erhält sich noch neben den gebliebenen »bin« und »bist« der Imperativ »bis« (»bis mein Weib, sei mein Weib«).

3. Der dritte Stamm kommt nur im Flexionsbereich des germanischen Verbum »sein« vor: wes; a. ind.: vasami; germ.: wesan, wohnen, verweilen, sich aufhalten; zu ves gehören: Feaxia, Faoxv, Vesta, vestibulum. Hieraus bildet sich im Deutschen: »gewesen«; ferner: was, war, es west, wesen. Das Partieip »wesend« ist noch in an-wesend, ab-wesend erhalten. Das Substantivum »Wesen« bedeutet ursprünglich nicht das Was-sein, die quidditas, sondern das Währen als Gegenwart, Anund Ab-wesen. Das »sens« im Lateinischen prae-sens und ab-sens ist verloren gegangen. Meint »Dii con-sentes« die beisammen an-wesenden Götter?

Aus den drei Stämmen entnehmen wir die drei anfänglichen anschaulich bestimmten Bedeutungen: leben, aufgehen, verweilen.