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§ 22. Dreistämmigkeit und Einheit von »sein«

Die Sprachwissenschaft stellt sie fest. Sie stellt auch fest, daß diese anfänglichen Bedeutungen heute erloschen sind; daß sich nur noch eine »abstrakte« Bedeutung »sein« erhalten habe. Doch hier erhebt sich eine entscheidende Frage: Wie und worin kommt die angeführte Dreistämmigkeit überein? Was trägt und führt die Sage des Seins? Worin beruht unser Sagen des Seins — nach allen seinen sprachlichen Abwandlungen? Sind beide, dieses Sagen und das Seinsverständnis, dasselbe oder nicht? Wie west in der Sage des Seins die Unterscheidung von Sein und Seiendem? So wertvoll die erwähnten Feststellungen der Sprachwissenschaft sind, bei ihnen kann es nicht sein Bewenden haben. Denn nach diesen Feststellungen muß erst das Fragen beginnen.

Wir haben eine Kette von Fragen zu stellen:

1. Welche Art von »Abstraktion« war bei der Bildung des Wortes »sein« im Spiel?

2. Darf hier überhaupt von Abstraktion gesprochen werden?

3. Welches ist denn überhaupt die übrig gebliebene abstrakte Bedeutung?

4. Kann das hier sich eröffnende Geschehen, daß verschiedene Bedeutungen, d. h. zugleich Erfahrungen, zum Flexionsbestand eines Verbum und zwar keines beliebigen zusammenwachsen, lediglich so erklärt werden, daß man sagt, es ging dabei etwas verloren? Durch bloßes Verlorengehen entsteht nichts, am wenigsten solches, was in der Einheit seiner Bedeutung ursprünglich Verschiedenes vereinigt und vermischt.

5. Welche führende Grundbedeutung kann die hier geschehene Vermischung geleitet haben?

6. Welche Richtbedeutung hält sich in aller Verwischung dieser Vermischung durch?

7. Muß nicht die innere Wortgeschichte gerade dieses Wortes [56] »sein« aus der üblichen Gleichstellung mit beliebigen anderen Wörtern, deren Etymologie erforscht wird, herausgenommen werden, zumal wenn wir bedenken, daß schon die Stammbedeutungen (leben, aufgehen, wohnen) nicht beliebige Einzel-