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Frage nach dem. Wesen des Seins

Wir zählen der Reihe nach die durch eine Umschreibung ausgelegten verschiedenen Bedeutungen auf. Das im »ist« gesagte »sein« bedeutet: »wirklich gegenwärtig«, »ständig vorhanden«, »stattfinden«, »herstammen«, »bestehen«, »sich aufhalten«, »gehören«, »verfallen«, »stehen für«, »sich befinden«, »herrschen«, »angetreten haben«, »auftreten«. Es bleibt schwierig, vielleicht sogar unmöglich, weil wesenswidrig, eine gemeinsame Bedeutung als allgemeinen Gattungsbegriff herauszuheben, unter den sich die genannten Weisen des »ist« als Arten einordnen ließen. Dennoch geht ein einheitlich bestimmter Zug durch alle hindurch. Er weist das Verstehen von »sein« auf einen bestimmten Horizont, aus dem her sich das Verständnis erfüllt. Die Begrenzung des Sinnes von »Sein« hält sich im Umkreis von Gegenwärtigkeit und Anwesenheit, von Bestehen und Bestand, Aufenthalt und Vor-kommen.

Dies alles zeigt in die Richtung dessen, worauf wir bei der ersten Kennzeichnung der griechischen Erfahrung und Auslegung des Seins stießen. Wenn wir die übliche Deutung des Infinitivs festhalten, dann nimmt das Wort »sein« den Sinn aus der Einheitlichkeit und Bestimmtheit des Horizontes, der das Verständnis leitet. Kurz gesagt: Wir verstehen sonach das Verbalsubstantiv »Sein« aus dem Infinitiv, der seinerseits auf das »ist« und seine dargestellte Mannigfaltigkeit bezogen bleibt. Die bestimmte und einzelne Verbalform »ist«, die dritte Person des Singular im Indicativ des Praesens, hat hier einen Vorrang. Wir verstehen das »Sein« nicht im Hinblick auf das »du bist«, »ihr seid«, »ich bin«, oder »sie wären«, die alle doch auch und ebenso gut verbale Abwandlungen des »Seins« darstellen wie das »ist«. »Sein« gilt uns als Infinitiv des »ist«. Umgekehrt verdeutlichen wir uns unwillkürlich, fast als sei anderes nicht möglich, den Infinitiv »sein« vom »ist« her.

Demgemäß hat das »Sein« jene angezeigte, an die griechische Fassung des Wesens des Seins erinnernde Bedeutung, eine Bestimmtheit also, die uns nicht irgendwoher zugefallen ist, sondern unser geschichtliches Dasein von altersher beherrscht.