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§ 18. Wandel der Naturwissenschaft

3. Der mathematische Entwurf ist als axiomatischer der Vorausgriff in das Wesen der Dinge, der Körper; damit wird im Grundriß vorgezeichnet, wie jedes Ding und jede Beziehung jedes Dinges zu jedem Ding gebaut ist.

4. Dieser Grundriß gibt zugleich den Maßstab für die Ausgrenzung des Bereiches, der künftig alle Dinge solchen Wesens umschließt. Natur ist jetzt nicht mehr das, was als inneres Vermögen des Körpers diesem die Bewegungsform und seinen Ort bestimmt. Natur ist jetzt der im axiomatischen Entwurf umrissene Bereich des gleichmäßigen raumzeitlichen Bewegungszusammenhanges, in den eingefügt und verspannt die Körper allein Körper sein können.

5. Der so im Entwurf in seinem Grundriß axiomatisch bestimmte Bereich der Natur verlangt nun auch für die in ihm vorfindbaren Körper und Korpuskeln eine Zugangsart, die allein den axiomatisch vorbestimmten Gegenständen angemessen ist. Die Art der Befragung und erkenntnismäßigen Bestimmung der Natur wird jetzt nicht mehr durch überlieferte Meinungen und Begriffe geregelt. Die Körper haben keine verborgenen Eigenschaften und Kräfte und Vermögen. Die Naturkörper sind nur das, als was sie sich im Bereich des Entwurfs zeigen. Die Dinge zeigen sich jetzt nur in den Verhältnissen der Orter und Zeitpunkte und den Maßen der Masse und der wirkenden Kräfte. Wie sie sich zeigen, ist durch den Entwurf vorgezeichnet; er bestimmt deshalb auch die Weise des Hinnehmens und der Erkundung des sich Zeigenden, die Erfahrung, das experiri. Weil aber jetzt die Erkundung durch den Grundriß des Entwurfs vorbestimmt ist, kann das Befragen so angelegt werden, daß es im voraus Bedingungen setzt, auf welche die Natur so oder so antworten muß. Auf Grund des Mathematischen wird die experientia zum Experiment im neuzeitlichen Sinne. Die neuzeitliche Wissenschaft ist experimentierend auf Grund des mathematischen Entwurfs. Der experimentierende Drang zu den Tatsachen ist eine notwendige Folge des vorherigen mathematischen Überspringens aller Tatsachen. Wo aber


Martin Heidegger (GA 41) Einführung in die Metaphysik. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen

GA 41