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Freiheit und System

nach dessen Tod unter dem Titel: Ethica ordine geometrico demonstrata et in quinque partes distincta ... erschien. Die fünf Teile handeln: I. De Deo. II. De natura et origine mentis. III. De origine et natura affectuum. IV. De servitute humana seu de affectuum viribus. V. De potentia intellectus seu de libertate humana.

Schon der Titel bringt die Herrschaft der mathematischen Wissensforderung — ordine geometrico — zum Ausdruck. Daß diese Metaphysik, d. h. Wissenschaft vom Seienden im Ganzen, sich als »Ethik« bezeichnet, bringt zum Ausdruck, daß das Handeln und die Haltung des Menschen für die Art des Vorgehens im Wissen und der Wissensbegründung von ausschlaggebender Bedeutung ist.

Dieses System ist aber nur möglich geworden auf Grund einer einzigartigen Einseitigkeit, von der noch zu handeln sein wird; außerdem aber dadurch, daß die metaphysischen Grundbegriffe der mittelalterlichen Scholastik mit einer seltenen Kritiklosigkeit einfach in das System hineingebaut wurden. Für die Ausführung des Systems selbst wurde die Mathesis universalis, die Methodenlehre des Descartes, übernommen, und der eigentliche metaphysische Grundgedanke stammt bis ins einzelne von Giordano Bruno. Dieses System des Spinoza muß aber hier vor allem deshalb genannt werden, weil es im 18. Jahrhundert noch einmal eine Rolle spielte innerhalb von Erörterungen, die an die Namen Lessing, Jacobi, Mendelssohn, Herder und Goethe geknüpft sind, Erörterungen, die ihre letzten Schatten auch noch in die Schellingsche Freiheitsabhandlung werfen. Die sehr verschieden gerichteten Auffassungen des Systems Spinozas haben mit zu der Gewohnheit beigetragen, unter »System« der Philosophie sich überhaupt dergleichen wie dieses ganz bestimmte und einseitige System zu denken. Es gehört in jene merkwürdige Geschichte der Mißdeutungen aller Philosophien durch die jeweiligen Zeitgenossen, daß Schellings Philosophie als Spinozismus ausgegeben wurde. Wenn Schelling ein System von Grund aus bekämpfte, dann ist


Martin Heidegger (GA 42) Schelling Vom Wesen der Menschlichen Freiheit