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Die Pantheismusfrage

einseitig denkt, ist aber nicht der Philosoph, sondern der gemeine Mann; eigentlich konkret, d. h. die Dinge in der einheitlichen Gewachsenheit ihres vollen Wesens, konkret, denkt nur der Philosoph. Der gemeine Verstand sieht alles nur unter einem einzigen Gesichtspunkt, auf den er gerade verfallen ist. Er bleibt außerstande, die andere Seite auch zu sehen oder gar beide Seiten unter einer höheren Einheit zusammen zu denken.

Die sogenannte »lebensnahe Wahrheit« des gesunden Menschenverstandes ist daher eine sehr fragwürdige Sache. Hegel hat einmal um 1807 einen Aufsatz geschrieben, der betitelt ist: »Wer denkt abstrakt?« (WW XVII, 400 ff.) Ich führe ihn immer wieder gern an als die meines Erachtens beste Einleitung in die Philosophie des deutschen Idealismus und die Philosophie überhaupt hinsichtlich ihres Denkverfahrens.

»Denken? Abstrakt? — Sauve qui peut! Rette sich, wer kann! So höre ich schon einen vom Feinde erkauften Verräther ausrufen, der diesen Aufsatz dafür ausschreit, daß hier von Metaphysik die Rede seyn werde. Denn Metaphysik ist das Wort, 'wie Abstrakt und beinahe auch Denken das Wort ist, vor dem jeder, mehr oder minder, wie vor einem mit der Pest Behafteten davon läuft.« (WW XVII, 400)

»Alte, ihre Eyer sind faul! sagt die Einkäuferin zur Hökersfrau. Was, — entgegnet diese, — meine Eyer faul? Sie mag mir faul seyn! Sie soll mir das von meinen Eyern sagen! Sie? Haben ihren Vater nicht die Läuse an der Landstraße aufgefressen, ist nicht ihre Mutter mit den Franzosen fortgelaufen, und ihre Großmutter im Spital gestorben, — schaff' sie sich für ihr Flitterhalstuch ein ganzes Hemde an; man weiß wohl, wo sie dies Halstuch und ihre Mützen her hat; wenn die Offiziere nicht wären, wär' jetzt Manche nicht so geputzt, und wenn die gnädigen Frauen mehr auf ihre Haushaltung sähen, säße Manche im Stockhause, — flick sie sich nur die Löcher in den Strümpfen. — Kurz, sie läßt keinen guten Faden an ihr. Sie denkt abstrakt, und subsumirt jene nach Halstuch, Mütze, Hemde u. s. f., wie nach den Fingern und andern Parthien, auch nach Vater und


Martin Heidegger (GA 42) Schelling Vom Wesen der Menschlichen Freiheit