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§ 22. Allgemeine Wirklichkeit des Bösen

sen, im Sinne der für sich betrachteten inneren Möglichkeit, »ist« der Mensch also weder gut noch böse, sondern er ist im Wesen jenes Seiende, das sowohl das eine als auch das andere sein kann, so zwar, daß, wenn er das eine ist, er auch das andere ist. Sofern aber der Mensch wirklich ist, muß er notwendig entweder das eine oder das andere im Sinne der Vorherrschaft je des einen über das andere sein. Er ist als der Gute nicht nur gut, sondern zugleich böse und umgekehrt. Im Wesen als Möglichkeit ist er ein unentschiedenes Wesen; aber er kann wesensmäßig nicht in der Unentschiedenheit bleiben, sofern er ist. Er muß aber sein, wenn anders das Absolute existieren soll, d. h. aus sich heraustreten soll ins Offenbare. Offenbar werden kann etwas nur in seinem Gegensatz; die Gegensätzlichkeit der Prinzipien muß an den Tag kommen, d. h. es muß sich das eine gegen das andere so oder so entscheiden. Darin liegt: Im Geschaffenen kann das Gute nur sein, indem das Böse ist, und umgekehrt.

Wenn also jetzt nach der Kennzeichnung der inneren Möglichkeit des Bösen die Frage nach seiner Wirklichkeit entsteht, so kann diese nur begriffen werden im wesenhaften Gegenbezug zum Guten, und dieses so, daß das Böse und das Gute begriffen werden als jeweilige Wirklichkeiten eines Vermögens, das Vermögen ist zum Guten und zum Bösen. Dieses aber ist das Wesen der menschlichen Freiheit. Wenn scheinbar diese Frage im vorigen Abschnitt in den Hintergrund trat, so kommt sie jetzt in aller Schärfe heraus. Denn das Böse ist nichts für sich, sondern ist immer nur als Geschichtliches, Geistiges, als menschliche Entschiedenheit, welche Entschiedenheit als solche immer zugleich Entscheidung für und gegen sein muß. Das, wogegen eine Entscheidung geht, wird durch die Entscheidung nicht beseitigt, sondern gerade gesetzt.

Die Entscheidung aber ist, was sie ist, nur als das Heraustreten aus der Unentschiedenheit. Nun kann der Mensch, sofern er wirklich Mensch ist, in der Unentschiedenheit nicht verharren; er muß aus ihr heraus. Andrerseits aber: Wie soll er


Martin Heidegger (GA 42) Schelling Vom Wesen der Menschlichen Freiheit