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Nietzsches physiologische Ästhetik

nehmen. Aber nach verschiedenen Anzeichen ist zu vermuten, daß bereits Jakob Burckhardt in seinen Basler Vorlesungen über die Kultur der Griechen, die Nietzsche zum Teil gehört hat, diesem Gegensatz auf der Spur war; sonst würde auch Nietzsche selbst nicht Jakob Burckhardt noch in der »Götzen-Dämmerung« (VIII, 170/1) eigens nennen als »jenen tiefsten Kenner ihrer [der Griechen] Kultur, der heute lebt, wie Jakob Burckhardt in Basel«. Was freilich Nietzsche nicht wissen konnte, trotzdem er seit seiner Jugend klarer als seine Zeitgenossen wußte, wer Hölderlin war, das ist die Tatsache, daß Hölderlin diesen Gegensatz bereits in einer noch tieferen und edleren Weise gesehen und begriffen hatte.

Freilich ist diese große Erkenntnis verborgen in einem Brief an den Freund Böhlendorff. Es ist jener ungeheure Brief vom 4.12. 1801, kurz vor der Abreise nach Frankreich geschrieben4. Hölderlin stellt hier im Wesen der Griechen einander gegen über »das heilige Pathos« und die »abendländisch-junonische Nüchternheit der Darstellungsgabe«, dieses aber nicht als eine gleichgültige geschichtliche Feststellung genommen, sondern in unmittelbarer Besinnung auf das Schicksal und die Bestimmung der Deutschen begriffen. Es muß hier bei diesem Hinweis bleiben, da Hölderlins eigenes Wissen nur durch eine Auslegung seines Werkes die hinreichende Bestimmtheit erhalten könnte. Genug, wenn wir ahnend aus diesem Hinweis entnehmen, daß der verschieden benannte Widerstreit des Dionysischen und des Apollinischen, der heiligen Leidenschaft und der nüchternen Darstellung, ein verborgenes Stilgesetz der geschichtlichen Bestimmung der Deutschen ist und uns eines Tages bereit und vorbereitet finden muß zu seiner Gestaltung. Dieser Gegensatz ist keine Formel, mit Hilfe deren wir nur »Kultur« beschreiben dürften. Hölderlin und Nietzsche haben mit diesem Widerstreit ein Fragezeichen auf gerichtet vor der Aufgabe der Deutschen, geschichtlich ihr Wesen zu finden.


4 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe, hg. von N. v. Hellingrath, Bd. V, Berlin 21923, S. 318 ff.


Martin Heidegger (GA 43) Nietzsche, Der Wille zur Macht als Kunst