134
Nietzsches physiologische Ästhetik

Fragen wir aber, wie Nietzsche das Werk bestimmt, dann erhalten wir keine Antwort, denn Nietzsches Besinnung auf die Kunst — und gerade sie als extremste Ästhetik — fragt nach dem Werk als solchem gar nicht und jedenfalls niemals in erster Linie. Und daher kommt es, daß wir mm auch über das Wesen des Schaffens als Hervorbringen wenig und nichts Wesentliches erfahren. Vielmehr ist vom Schaffen immer nur die Rede als Lebensvollzug, und das heißt: in seiner Bedingtheit durch den Rausch; darnach ist der Zustand des Schaffens »ein explosiver Zustand« (WzM n. 811; XVI, 239). Das ist eine chemische Beschreibung, aber keine philosophische Auslegung. Wenn an derselben Stelle erwähnt wird: die Gefäßverände- rung, Veränderung von Farbe, Temperatur, Sekretion, so ist das eine Feststellung von äußerlich faßbaren Leibveränderungen und bleibt dies auch dann, wenn der »Automatismus des ganzen Muskelsystems« in Betracht gezogen wird. Diese Feststellungen können richtig sein, sie gelten aber auch für andere Leibzustände, etwa krankhafte. Nietzsche sagt auch, es sei nicht möglich, Künstler zu sein und nicht krank zu sein. Und wenn er sagt, »Musik machen [d. h. überhaupt Kunst- -machen] ist auch noch eine Art Kindermachen« (WzM n. 800; XVI, 228), dann entspricht das nur jener Kennzeichnung des Rausches, wonach dessen »älteste und ursprünglichste Form« der Geschlechtsrausch ist (vgl. VIII, 122). Aber wir würden in der Beschränkung auf diese Hinweise Nietzsches nur die eine »Seite« des Schaffensvorganges beachten, und diese, eben in der Einseitigkeit, zugleich in der Verunstaltung. Die andere » Seite«, wenn hier überhaupt mit Sinn von »Seiten« gesprochen werden kann, muß uns durch die Erinnerung an das volle Wesen des Rausches und der Schönheit gegenwärtig werden: das Über- -sich-hinaus-steigen, um dadurch vor jenes zu gelangen, was dem entspricht, was wir von uns halten. Damit ist der Entscheidungscharakter, das Maßstäbliche und Ranghafte im Schaffen berührt. In diese Hinsicht hinein spricht Nietzsche, wenn er sagt: »Die Künstler sollen nichts so sehen, wie es ist,


Martin Heidegger (GA 43) Nietzsche, Der Wille zur Macht als Kunst