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§17. Schaffen und Empfangen

sondern voller, sondern einfacher, sondern stärker: dazu muß ihnen eine Art Jugend und Frühling, eine Art habitueller Rausch im Leben eigen sein« (WzM n. 800; XVI, 228).

Das voller-, einfacher-, stärker-Sehen im Schaffen nennt Nietzsche auch das »Idealisieren«. Unmittelbar an die Wesensbestimmung des Rausches (»Götzen-Dämmerung«; VIII, 123) als Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle anschließend, schreibt er: »Aus diesem Gefühl gibt man an die Dinge ab, man zwingt sie von uns zu nehmen, man vergewaltigt sie, - man heißt diesen Vorgang ›Idealisieren‹.«

Aber Idealisieren ist nicht, wie man meint, das bloße Weglassen, das Ausstreichen und Abziehen des Kleinen und Nebensächlichen. Idealisieren ist nicht eine Abwehrhandlung, sondern sein Wesen besteht umgekehrt in einem »ungeheuren Heraustreiben der Hauptzüge«. Das Entscheidende liegt dann eben im vorgreifenden Heraussehen dieser Züge, im Ausgreifen nach jenem, wovon wir glauben, daß wir gerade noch damit fertig werden würden, wovor wir noch gerade bestehen könnten. Es ist jenes Fassen nach dem Schönen, das Rilke ganz in diesem Nietzscheschen Sinne zu Beginn der »Ersten Elegie« benennt:

». . . Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören .. .«

Schaffen ist das einfacher und stärker sehende Heraustreiben der Hauptzüge, dieses gerade-noch-Bestehen vor dem höchsten Gesetz und seiner Bändigung und daher der höchste Jubel des Bestehens dieser Gefahr. »>Schönheit< ist deshalb für den Künstler etwas außer aller Rangordnung, weil in der Schönheit Gegensätze gebändigt sind, das höchste Zeichen von Macht, nämlich über Entgegengesetztes; außerdem ohne Spannung: — daß keine Gewalt mehr not tut, daß Alles so leicht folgt, gehorcht, und zum Gehorsam die liebenswürdigste Miene macht - das


Martin Heidegger (GA 43) Nietzsche, Der Wille zur Macht als Kunst