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Nietzsches physiologische Ästhetik

Das Form-werden erklärt Nietzsche hier in einem Zwischensatz als »sich preisgeben«, »sich öffentlich machen«. Das ist eine auf den ersten Blick befremdliche Bestimmung des Wesens der Form. Und dennoch entspricht sie, ohne daß Nietzsche hier und sonst eigens darauf Bezug nimmt, dem ursprünglichen Begriff der Form, wie er bei den Griechen,sich heraus gebildet hat. Auf diesen Ursprung kann hier nicht näher eingegangen werden. Nur dieses sei zur Erläuterung von Nietzsches Bestimmung gesagt: Form, forma entspricht dem griechischen μορφή, die umschließende Grenze und Begrenzung, was ein Seiendes in das zwingt und stellt, was es ist, so daß es in sich steht: die Gestalt1. Diese aber ist das, als was das Seiende sich zeigt in seinem Aussehen: εἶδος, wodurch und worin es heraustritt, sich darbietet, sich öffentlich macht, aufglänzt und aufscheint2.

Der Künstler, und wir können das jetzt immer fassen als Bezeichnung für den ästhetischen Zustand als solchen, verhält sich zur Form nicht als einem solchen, was noch ein anderes ausdrückt, sondern der künstlerische Bezug zur Form ist die Liebe der Form, um dessentwillen, was sie ist. So sagt Nietzsche einmal, und zwar in einem ablehnenden Sinn, mit Bezug auf die zeitgenössischen Maler: »Keiner ist einfach Maler; alle sind Archäologen, Psychologen, In-Szene-Setzer irgend welcher Erinnerung oder Theorie. Sie gefallen sich an unsrer Erudition, an unsrer Philosophie... ...tausend Meilen weit von den alten Meistern, welche nicht lasen und nur daran dachten, ihren Augen ein Fest zu geben« (WzM n. 828; XVI, 251).

Die Form als das, was das Begegnende aufscheinen läßt, bringt das durch sie bestimmte Verhalten erst in die Unmittelbarkeit eines Bezuges zum Seienden, und diesen Bezug selbst eröffnet sie als Zuständlichkeit des ursprünglichen Verhaltens zum Seienden, des Festlichen, in dem das Seiende selbst in seinem


1 Vergleich zu Schillers Briefen: Form als Anwesung.

2 Vgl. Frankfurter Vorträge I, gehalten im Freien Deutschen Hochstift am 17. 11. 1936 (= Der Ursprung des Kunstwerkes 1. Teil, in: Holzwege, Frankfurt am Main 1950, S. 7-28).


Martin Heidegger (GA 43) Nietzsche, Der Wille zur Macht als Kunst