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Gründung des Grundes

sollte, daß es an eine höhere Gesetzlichkeit gebunden ist, die vor der Zudringlichkeit des gemeinen Meinens bewahrt bleiben muß, das seine eigene Regelmäßigkeit hat und sie überall beansprucht und die Ausnahme verabscheut. Wenn wir die Wesenssetzung ein Hervor-bringen nennen und dabei zunächst vom »Wesen« in der griechischen Auffassung (ἰδέα) handeln,dann muß auch das »Hervor-bringen« im griechischen Sinne verstanden werden.

Hervor-bringen heißt hier Ans-Licht-bringen, etwas bisher überhaupt noch nicht Gesichtetes zu Gesicht bringen, und zwar in der Weise, daß das Sehen dabei nicht einfach ein Hingaffen auf etwas Vorliegendes ist, sondern ein solches Sehen, das sehend erst das zu Sehende er-bringt, er-sieht. Das Wesen, d. h.griechisch-platonisch: die ἰδέα, der Anblick des Seienden in dem,was es ist, wird er-faßt, indem es er-sehen wird. Der Philosoph ist nur ein Denker, wenn er ein solcher Seher und kein Gaffer und Rechner und kein bloßer Redner ist. Jede »Begründung« in dem festgelegten Sinne kommt gegenüber der Wesenssetzung zu spät, weil das Er-sehen des Wesens selbst das er-sieht,worin es seinen Grund hat — was sein Grund ist. Wesenserkenntnis ist in sich Grund-legung: ist Setzen des als Grund zumGrunde Liegenden, des ΰποκείμενον — θέσις — und somit ΰπόθεσις; nicht nachträgliche Beibringung eines Grundes für ein schon Vorgestelltes. Wird etwas in seinem Wesen bestimmt, so wird dieses Wesen selbst er-sehen. Das Er-sehen des Wesens nimmt für dieses selbst etwas in den Blick und in den Anspruch,woraus es — das Wesen — als das, was es ist, ersichtlich wird.


§ 25. Die Unverborgenheit des Wasseins des Seienden als die der Wesenserfassung zugehörige Wahrheit. Gegründetheit derRichtigkeit der Aussage in der Unverborgenheit (ἀλήθεια)


Es gilt jetzt, das Gesagte auf die uns bewegende Frage nach der »Begründung« der überlieferten Wesenssetzung der Wahrheit- als Richtigkeit der Aussage - anzuwenden.


Martin Heidegger (GA 45) Grundfragen der Philosophie