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§ 36. Not des anfänglichen Denkens

Wissen — ist das Auseinanderwerfen dessen, was sich alsbald als das Seiende in seiner Seiendheit gegen das Unseiende bestimmt – gesetzt, daß die Not die ihr gemäße Notwendigkeit im Menschen ernötigt.

Die Not, die da gemeint wird, ist daher auch keine unbestimmte, sondern sehr bestimmt in ihrer Nötigung, indem sie bereits dem Denken seinen Wesensraum schafft, ja nichts anderes ist als dieses. Denn Denken heißt hier, das Seiende in der Entschiedenheit seines Seyns aufstehen und vor sich stehen lassen, es als solches vernehmen und damit in seiner Seiendheit erstmals nennen.

Diese Not – das Nicht-aus-und-ein-Wissen innerhalb des selbst ungegründeten Inmitten des noch unentschiedenen Seienden und Unseienden – diese Not ist kein Mangel und kein Entbehren, sondern das Übermaß einer Schenkung, die freilich schwerer zu tragen ist als jede Einbuße. Diese Not – sagen wir – ist eine Art des Seyns und nicht etwa des Menschen, so daß in ihm »seelisch« diese Not als »Erlebnis« entspränge und ihren Platz hätte, sondern umgekehrt: Der Mensch entspringt selbst erst aus dieser Not, die wesentlicher ist als er selbst, der nur und erst von ihr be-stimmt wird.

Diese Not gehört zur Wahrheit des Seyns selbst. Sie besitzt ihre höchste Schenkung darin, der Grund der Notwendigkeit zu den höchsten Möglichkeiten zu sein, auf deren Wegen der Mensch schaffend über sich hinaus durch das Seiende hindurch in die Wahrheit des Seyns zurückkonnnt.



§ 36. Die Not des anfänglichen Denkens und ihr stimmendes Nötigen des Menschen in der Grundstimmung des Er-staunens
(θαυμάζειν)


Die Not, die gemeint wird, bestimmt den Menschen, indem sie ihn durchstimmt, wobei freilich sogleich wieder das Mißverständnis sich einschleicht, als seien die Stimmungen solches,


Martin Heidegger (GA 45) Grundfragen der Philosophie

GA 45