§ 39. Die Not der Nothsigkeit    183
        Ende ihres ersten Anfangs steht, in dem Zustand, der dem Anfang
        entspricht — wenn auch nur als Endzustand. Einstmals
        war die Philosophie das Befremdlichste und Seltenste und Einzigste
        — jetzt ist sie dasselbe, aber nur noch in der Form der Kuriosität.
        Einstmals war im Anfang des abendländischen Denkens
        die Wahrheit das Ungefragte, außer der Frage Stehende,
        aber dieses kraft der höchsten Not und Notwendigkeit des Fragens
        nach dem Seienden — jetzt ist das Wesen der Wahrheit
        auch das Ungefragte und Fragloseste, aber nur noch als das
        Gleichgültigste innerhalb des Zeitalters der völligen Fraglosigkeit
        im Wesentlichen. Die Wahrheitsfrage ist ohne Notwendigkeit.
        Das ist eine wesentliche Erkenntnis, die nur einer wirklichen
        Besinnung aufgeht. Diese Erkenntnis, das Ernstmachen
        mit der Lage der Philosophie, ist allein entscheidend. Die Besorgnis
        um die Philosophie als Kulturgut kann ruhig sich selbst
        überlassen bleiben.
        Die Wahrheitsfrage ist ohne Notwendigkeit. Das besagt aber
        nach der vollzogenen Besinnung auf den Anfang: Die Wahrheitsfrage
        ist ohne Not; die Grundstimmung bleibt aus und
        versagt sich, die den Menschen wieder anfänglich in das Seiende
        im Ganzen versetzen müßte.
        Bleibt die Not aus - oder ist der heutige Mensch schon so behext
        durch die Machenschaften und so fortgerissen durch seine
        Erlebnisse, daß er der Not nicht mehr gewachsen ist, wenn anders
        die wesentliche Not keine Kläglichkeit, der wir nur abgünstig
        gesonnen sein könnten, sondern das Größte ist?
        Wie, wenn dieses, daß wir ohne Not sind, wie, wenn diese
        Notlosigkeit unsere — die uns noch verweigerte Not wäre? Die
        Not der Notlosigkeit?
        Aber mit dieser Frage, die nichts sagen und alles eher verschweigen
        soll, kommen wir an die Stelle unserer größten Gefahr:
        daß wir als Heutige diese Not, kaum daß sie genannt ist,
        ins Gerede bringen und sie uns gar als ein »Erlebnis« auf- und
        einreden, ohne jemals von ihr genötigt zu sein, geschweige
        denn ihre Notwendigkeit zu vollziehen. Um dieser Gefahr an

Martin Heidegger (GA 45) Grundfragen der Philosophie