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§ 22. Das Wesen des Willens zur Macht

Demgegenüber gilt es immer neu zu bedenken, was Wille zur lacht bedeutet: die Ermächtigung in die Überhöhung zum eigenen Wesen. Die Ermächtigung bringt die Überhöhung — das Werden — zum Stand und in die Beständigkeit. Im Gedanken des Willens zur Macht soll das im höchsten und eigentlichsten Sinne Werdende und Bewegte — das Leben selbst — in seiner Beständigkeit gedacht werden. Gewiß will Nietzsche das Werden und das Werdende als den Grundcharakter des Seienden im Ganzen; aber er will das Werden gerade und allem zuvor als das Bleibende — als das eigentlich »Seiende«; seiend nämlich im Sinne der griechischen Denker. Nietzsche denkt so entschieden als Metaphysiker, daß er dies auch weiß. Daher beginnt eine Aufzeichnung, die erst im letzten Jahre, 1888, ihre endgültige Form erhielt (WzM n. 617), also:

»Rekapitulation:

Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen -das ist der höchste Wille zur Macht.«

Wir fragen: Warum ist dies der höchste Wille zur Macht? Antwort: Weil der Wille zur Macht in seinem tiefsten Wesen nichts anderes ist als die Beständigung des Werdens in die Anwesenheit.

In dieser Auslegung des Seins kommt im Durchgang durch das Äußerste der neuzeitlichen metaphysischen Grundstellung das anfängliche Denken des Seins als φύσις zu seiner Vollendung. Φύσις: Aufgehen und Erscheinen, Werden und Anwesen sind im Gedanken des Willens zur Macht in die Einheit des Wesens von »Sein« nach dem erstanfänglichen Sinn zurückgedacht, nicht als Nachahmung des altzeitlichen, sondern als Verwandlung des neuzeitlichen Denkens des Seienden in seine ihm gewiesene Vollendung.

Das bedeutet: Die anfängliche Auslegung des Seins als Beständigkeit des Anwesens wird jetzt in die Fraglosigkeit gerettet.1


1 Über den Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen als das innerste Grundgesetz des 'Willens zur Macht vgl. Vorlesung Sommersemester 1937: Nietzsches metaphysische Grundstellung im abendländischen Denken: Die ewige Wiederkehr des Gleichen. (Gesamtausgabe Band 44. Frankfurt a. Mo: Klostermann 1986.) Wiederkehr: als Werden; ewige: als Beständigung; Wiederkehr des Gleichen: Beständigung des Beständigen.


Martin Heidegger (GA 47) Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis

GA 47