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Das Dichten des Wesens der Ströme

Wir singen aber vom Indus her
Fernangekommen und
Vom Alpheus, ...


»Indus« und »Alpheus« sind Namen für Ströme und Flüsse. Der eine gehört in das Land der »Indier«, der andere in das Land der Griechen. Von Strömen her sind die Rufenden gekommen. Und wohin sind sie angekommen? Unmittelbar wird der Ort, das Hier als das entschieden Hiesige noch nicht genannt. Aber das »Hier« ist wiederum durch einen Strom bestimmt:


Hier aber wollen wir bauen.
Denn Ströme machen urbar
Das Land.


An einem Strom werden die von Strömen her Fernangekommenen bauen. An welchem Strom die Angekommenen wohnen werden, sagt erst der Beginn der zweiten Strophe.


Man nennet aber diesen den Ister.


»Ister« galt den Römern als Name für die untere Donau, für den Strom, den die Griechen nur in seinem unteren Lauf kannten und Ἴστρος nannten. Die römische Bezeichnung für die obere Donau lautet »Danubius«. Hölderlin aber benennt, wie sich noch zeigen wird, gerade den oberen Lauf der Donau mit dem griechisch-römischen Namen für den unteren Lauf des Stromes, gleich als ob die untere Donau an die obere und damit an ihre Quelle zurückgekehrt sei.

Wenn also der erste Herausgeber dieser Hymnen, Norbert von Hellingrath, dem Gedicht die Überschrift »Der Ister« gegeben hat, geschah dies mit Recht, gesetzt freilich, daß diese Hymne nicht beiläufig und einleitungsweise die Ströme und die Donau erwähnt, sondern eigens von ihr sagt, und zwar als einem Strom. So geschieht es in der Tat. Die also berechtigte Überschrift hat ihre Entsprechung in der Überschrift, die


Martin Heidegger (GA 53) Hölderlins Hymne »Der Ister«

GA 53