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Die Deutung des Menschen in Sophokles' Antigone

Vielfältig das Unheimliche, nichts doch
über den Menschen hinaus Unheimlicheres ragend sich regt.


πέλειν: von sich aus auf-und hervorkommen und so anwesen. ὁ πέλας ist der Nachbar, der in der unmittelbaren Nähe sein Anwesen hat, was jedoch sagt, daß er nicht starr, bewegungslos vorhanden, sondern im Anwesen tätig regsam ist, hin und her geht. πέλαγος: das von sich aus sich Regende und demnach nicht weg Fließende, sondern in seinem Wogen Bleibende und in sich Ruhende. πέλαγος ist so das Wort für »das Meer«. Hölderlins erhabenste Elegie trägt den Titel »Der Archipelagus« (IV, 88-101), gemeint ist das ägäische Meer. Hölderlin nennt dieses vorzüglichste Meer der Griechen das »Erzmeer«, V. 23 das »ausdauernde«, d. h. das im Wechseln und Werden Ruhende. Die Elegie schließt (V. 288 ff.) mit folgendem Anruf:


Aber du, unsterblich, wenn auch der Griechengesang schon
Dich nicht feiert, wie sonst, aus deinen Woogen, 0 Meergott!
Töne mir in die Seele noch oft, dass über den Wassern
Furchtlosrege der Geist, dem Schwimmer gleich, in der Starken
Frischem Glüke sich üb', und die Göttersprache, das Wechseln
Und das Werden versteh', und wenn die reissende Zeit mir
Zu gewaltig das Haupt ergreifft und die Noth und das Irrsaal
Unter Sterblichen mir mein sterblich Leben erschüttert,
Lass der Stille mich dann in deiner Tiefe gedenken.


Das πέλειν meint hier das verborgene Anwesen der Stille und Ruhe im unverborgenen ständigen Abwesen und Anwesen und d. h. im Erscheinen des Wechsels. In diesem sprechen die Götter und sagen das Bleibende, indem sie es verschweigen. Solches ist nur im »Andenken« zu denken. Das πέλειν meint nicht die leere Anwesung des nur Vorhandenen, sondern das Bleiben, das gerade im Wandern und Strömen ist, was es ist. Dergestalt ist auch, und d. h. griechisch πέλει, das Unheimliche in allem Seienden und ist der Mensch das Unheimlichste. Die Unheimlichkeit

GA 53