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Die Verstoßung des Menschen als des Unheimlichsten

Diese wollen von allem Ungemeinen nichts wissen und gleichsam »ihre Ruhe« haben. Nach dieser Deutung des Schlußwortes wäre das Chorlied dann nicht »das Hohelied der Kultur«, sondern der Lobgesang auf die Mittelmäßigkeit und der Haßgesang gegen die Ausnahme. Ein Urteil über diese Deutung ist schwieriger als es scheinen mag; denn dieser Chor spielt im Ganzen der Tragödie und vor allem da, wo er in die Reden und Gegenreden unmittelbar eingreift, eine sehr merkwürdige, unentschiedene, schwankende Rolle. Allein, trotz all solchen Verhaltens, das in seiner Art einheitlich noch nicht hinreichend gedeutet ist, bleibt doch dies Eine klar: gesetzt, in diesem Chorgesang spreche die allem Wesenhaften ausweichende Mittelmäßigkeit des Menschen, dann könnten hier nicht zugleich von denselben Mittelmäßigen die tiefsten Einsichten in das Menschenwesen, und zwar in dieser Höhe des Wissens und in dieser Würde des Sagens ausgesprochen werden. Dem Dichter Sophokles dürfen wir eine solche Stilwidrigkeit nicht aufbürden. Wir müssen das Schlußwort des Chorgesanges und dieses zuallererst in dem Bereich des Sagens festhalten, der sich uns eröffnet hat. Dann freilich ist die erste Frage zur Erläuterung des Schlußwortes die, ob durch diese Verstoßung vom Herde auch die Gestalt der Antigone getroffen wird. Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, ob Antigone in das dargestellte Wesen des Menschen gehört oder ob sie davon ausgenommen ist. Steht die Antigone außerhalb des Bezuges zum δεινόν? Soll gar diese Tragödie gerade eine Gestalt zeigen, die vom δεινόν unberührt und unberührbar ist? Denken wir jetzt auch nur flüchtig an das vieldeutige Wesen des δεινόν, dann erkennen wir leicht, daß die Antwort auf diese Fragen sich darnach bestimmt, welchen Grundzug des δεινόν man im Auge hat, ob einen einzelnen oder alle, ob alle nicht nur zusammen, sondern aus ihrem Grunde. Doch wir hören zuerst auf das, was Antigone selbst, und zwar in der einleitenden Zwiesprache mit der Schwester Ismene sagt.


Martin Heidegger (GA 53) Hölderlins Hymne »Der Ister«

GA 53