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§ 3. Klärung des Wandels der ἀλήθεια

sein Territorium und dessen Ausbreitung sicherte, bekundet überall das klare Vorgehen des Umgehens und Einschließens durch entsprechende Verträge mit weiter hinaus hegenden Stämmen. Im römischen fallere, Zu-Fall-bringen als einem Hintergehen, Hegt das »Täuschen«; das falsum ist das tückisch Täuschende: »das Falsche«.

Was geht vor sich, wenn das griechische ψεῦδος im Sinne des römischen falsum gedacht wird? Das griechische ψεῦδος als das Verhehlende und von da her auch »Täuschende« wird jetzt nicht mehr vom Verbergen her erfahren und ausgelegt, sondern aus dem Hintergehen. Das griechische ψεῦδος wird durch die Übersetzung in das römische falsum übergesetzt in den römisch-imperialen Bereich des Zu-Fall-bringens. Das ψεῦδος, das Verstellen und Verbergen, wird jetzt zu dem, was fallen macht, zum falsum. Hieraus erhellt: Das römische Erfahren und Denken, Einrichten und Ausbreiten, Bauen und Wirken bewegt sich von seinem Wesensbeginn an niemals im Bereich der ἀλήθεια und des ψεῦδος. Man weiß nun längst nach der Art historischer Feststellungen, daß die Römer vielfach das Griechische übernommen und bei dieser Aneignung auch umgebogen haben. Doch wir müssen eines Tages uns darauf besinnen, in welchen Wesensbereichen und aus welcher Tragweite diese Romanisierung des Griechentums sich ereignet hat. Die Umdeutung des ψεῦδος, und d. h. zugleich die Aneignung der »Verbergung« im Sinne des »Zu-Fall-bringens«, geht sogar so weit, daß die römische Sprache die Konstruktion und den Wortgebrauch des griechischen λανθάνω, ich bin verborgen, übernimmt. Diese umdeutende Übernahme wird begünstigt durch die indogermanische Verwandtschaft der griechischen und römischen Sprache. Der Grieche sagt λανθάνει ἥκων, richtig deutsch übersetzt: »er kommt unbemerkt«; griechisch gedacht: »er bleibt verborgen als der Kommende«. Der römische Geschichtsschreiber Livius sagt: fallit hostis incedens; deutsch: »unbemerkt nähert sich der Feind«; römisch gedacht: »der Feind täuscht als der sich nähernde«; eigentlich aber besagt


Martin Heidegger (GA 54) Parmenides