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§ 5. Der Gegensatz zum ἀλήθεια: λήθη (1)

§ 5. Verborgenes Gegenwesen der ἀλήθεια: λήθη (1) 141


wie nämlich das griechische Wort ουσία in der Alltagssprache gebraucht wird und da soviel wie »Vermögen«, »Besitz«, »Hab und Gut«, »Anwesen« bedeutet, wie aber zugleich das Alltagswort ουσία zu einem Wort des denkenden Sagens erhoben wird und dann die Anwesenheit jedes Anwesenden meint, so besagt πολιτεία einmal in der Alltagssprache das je zu einer πόλις gehörige, von ihr aus bestimmte »Leben«, das Treiben in ihr und entsprechend die der πόλις jeweils eigene Fassung, aus der sich dann so etwas wie eine »Verfassung« erkennen läßt, worunter nicht eine Abfolge aufgeschriebener Sätze und Regeln zu verstehen ist, obzwar zur »Verfassung« das Wort so ursprünglich gehört, daß es nicht nur die nachträgliche »Formel« und »Formulierung« darstellt. Wenn aber Platon diesen Namen πολιτεία als Titel eines denkerischen Gesprächs über die πόλις wählt, dann sagt dieses, daß hier vom Wesensbau der πολιτεία als solcher und damit vom Wesen der πόλις im Ganzen gehandelt werden soll.

Man hat herausgefunden, daß diese πολιτεία des Platon »eigentlich« nirgendwo wirklich sei und daher eine »Utopie« genannt werden müsse, »etwas, was keinen Ort hat«. Diese Entdeckung ist »richtig«, nur versteht sie nicht, was sie aufgedeckt hat. In Wahrheit ist es die Einsicht, daß »eigentlich« das Sein des Seienden nirgendwo innerhalb des Seienden, gleichsam als eines seiner Stücke vorhanden ist. Demnach müßte das Sein auch eine »Utopie« sein. In Wahrheit aber ist das Sein gerade und es allein der τόπος für alles Seiende, und Platons Politeia ist keine »Utopie«, sondern genau das Gegenteil, nämlich der metaphysisch bestimmte τόπος des Wesens der πόλις. Platons Politeia ist eine Erinnerung ins Wesenhafte, aber nicht eine Planung ins Faktische.

Die πόλις ist die Wesensstätte des geschichtlichen Menschen, das Wo, wohin der Mensch als ζώον λόγον έχον gehört, das Wo, von woher allein ihm zugefügt wird der Fug, in den er gefügt ist. Weil die πόλις das Wo ist, als welches und worin der Fug sich entbirgt und verbirgt, weil die πόλις die Weise ist, wie die


Martin Heidegger (GA 54) Parmenides

Parmenides p. 95

GA 54