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Der Anfang des abendländischen Denkens

a) Der ›Widerspruch‹ von Aufgehen und Untergehen. Das Versagen von Logik und Dialektik angesichts dieses ›Widerspruchs‹


Was sagt Heraklit von der φύσις? Wir hören, bevor wir noch den ersten Spruch im Ganzen durchdacht haben, inzwischen einen anderen Spruch. Wir vergessen aber auch bei der Anführung des folgenden Spruches wie bei der Ansetzung des ersten Spruches die übliche Reihenfolge der Fragmente und schließen an das Fragment 16 als das erste nunmehr das Fragment 123 als das zweite an. Es lautet:


φύσις κρύπτεσθαι φιλεῖ.

»Das Aufgehen dem Sichverbergen schenkt's die Gunst.«


Wir sind erstaunt, über die φύσις solches zu hören. Die φύσις als »das immerdar Aufgehen« ist als das »niemals Untergehen« doch offenkundig gleich dem »niemals Eingehen in die Verbergung«. Das immerdar Aufgehen ist doch dasjenige, dem rein am Aufgehen und nur an diesem ständig gelegen ist. Das immerdar Aufgehen weist ständig das Untergehen von sich. Es ist abhold dem Eingehen in die Verbergung. Wenn überhaupt das immerdar Aufgehen, die φύσις, sich von etwas abkehrt und gar gegen etwas sich kehrt, wenn das immerdar Aufgehen seinem Wesen nach etwas nicht kennt und nicht kennen darf, dann ist es das Verbergen und das Eingehen in die Verbergung. Jetzt aber sagt Heraklit: das Aufgehen schenkt die Gunst dem Sichverbergen. Das Aufgehen gehört danach mit seinem eigenen Wesen dem Sichverbergen. Wie reimt sich das mit dem Wesen der φύσις zusammen? Hier widerspricht Heraklit sich selbst. Der gewöhnliche Verstand ›empfindet‹ jedesmal eine tiefe Befriedigung darüber, wenn er dahinter kommt, daß ein Denker sich widerspricht. Kaum hat jemand z. B. die ersten Seiten von Kants Kritik der reinen Vernunft ›gelesen‹, was man so ›lesen‹ heißt, dann macht er