33
§ 7. Das Historische als Kernphänomen

sehen Entleerung des lebendigen Phänomens resultiert, ist das Historische unmittelbare Lebendigkeit.


a) Das »historische Denken«


Das >historische Bewußtsein< soll unsere gegenwärtige Kultur vor anderen auszeichnen. Das historische Denken bestimmt tatsächlich unsere Kultur, es beunruhigt unsere Kultur: erstens, indem es aufreizt, anregt, stimuliert; zweitens, indem es hemmt. Es bedeutet 1. eine Erfüllung; das Leben gewinnt seinen Halt an der Mannigfaltigkeit des Historischen, 2. eine Last. Das Historische ist also eine Macht, gegen die sich das Leben zu behaupten sucht. Man müßte die Entwicklung des historischen Bewußtseins in der lebendigen Geistesgeschichte betrachten. Ich verweise Sie auf Dilthey, der allerdings, meiner Überzeugung nach, den Kern des Problems nicht gefaßt hat. Was Troeltsch darüber sagt, ist wesentlich von Dilthey beeinflußt und nur inhaltlich näher bestimmt, auch was er über die Reformation sagt.

1. Die Verweltlichung und Selbstgenügsamkeit des faktischen Lebens, daß man mit innerweltlichen Mitteln das eigene Leben sichern will, führt zu einer Toleranz gegenüber fremden Auffassungen, durch die man neue Sicherung gewinnen will. Daher die heutige Wut, geistige Gestalten zu verstehen, die Wut des Typisierens von Lebensformen, Kulturzeitaltern, die bis zum Glauben geht, damit sei das Letzte gewonnen. Man ruht darin aus und freut sich an der Mannigfaltigkeit des Lebens und seiner Gestalten. In dieser Panarchie des Verstehens kommt das historische Bewußtsein der Gegenwart zu seinem schärfsten Ausdruck. In diesem Sinn erfüllt das Historische das (gegenwärtige) Leben. Was aber als Geschichtslogik und Methodologie der Geschichte sich auftut, hat mit dieser lebendigen Geschichtlichkeit, die sich in unser Dasein gleichsam eingefressen hat, keine Fühlung.

2. Die entgegengesetzte, hemmende Richtung liegt darin,


Martin Heidegger (GA 60) Phänomenologie des religiösen Lebens

GA 60