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Philosophische Grundlagen der mittelalterlichen Mystik

Erlebnisgehaltes auf ein unendliches Ganzes als Grundsinn ist Religion. Hingabe: ursprüngliches hemmungsloses Einströmen der Fülle, sich erregen lassen. Das jeweilige Erlebnis zurückleiten in die innere Einheit des Lebens. Religiöses Leben ist die beständige Erneuerung dieses Verfahrens. Handeln ist dann die Rückwirkung dieses Gefühls; nur das Handeln als Gesamtheit, nicht jeder einzelne Akt soll so bestimmt sein.

Geheimnisvoller Augenblick der ungegliederten Einheit von Anschauung und Gefühl, die eine ist ohne das andere nichts. Das noetische Moment ist selbst konstitutiv für den noematischen Gesamtgehalt des Erlebens.

Weil so jeder thetische Charakter fehlt, jede Seinsbehauptung, weil nichts entschieden wird über etwas, steht die Erlebnisfülle in einer gewissen Neutralität, kein Gegenstand hat vor dem anderen den Vorzug. Eine spezifische Unendlichkeit des religiösen Erlebens ist damit gegeben.

Geschichte im eigentlichsten Sinne ist der höchste Gegenstand der Religion, mit ihr hebt sie an und endigt mit ihr. Die Menschheit ist als eine lebendige Gemeinschaft der Einzelnen anzuschauen, in ihr das abgesonderte Dasein zu verlieren.

Alles mit Religion tun, nicht aus Religion. Religion soll wie eine heilige Musik alles Tun des Lebens begleiten.



Phänomenologie des religiösen Erlebnisses und der Religion


Die typischen Formen und Ausgestaltungen religiösen Lebens und des historischen Bewußtseins.

Die Selbständigkeit des religiösen Erlebnisses und seiner Welt ist als eine ganz originäre Intentionalität zu erschauen mit ganz originärem Forderungscharakter; desgleichen originär ist seine spezifische Welt- und Werthaftigkeit.

Die historische Fülle — genauer die wenigen großen Einmaligkeiten lebendiger Religion — ist zu bewerten mit den Sinn- und Erlebniselementen des religiösen Bewußtseins und nicht


Martin Heidegger (GA 60) Phänomenologie des religiösen Lebens page 3

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