315
87. Wahrheit.

zum Denken des Seins, auch da, wo es zunächst scheinbar nur gilt, die ἀλήθεια »historisch« zu erläutern.

Mit jener Bereitschaft ist zugleich eine Wandlung des Bezugs zum Wort gesetzt.

Im griechisch metaphysischen Denken geht dies Erfahren und Wissen der ἀλήθεια ganz auf das Unverborgene selbst als ein solches; die daraufhin und nur so erfahrene Unverborgenheit ist die Anwesung des Beständigen. Schon daß die Anwesung in ein »Offenes« hereinwest und die Beständigkeit in einem solchen steht, wird nicht bedacht und befragt, genug und übergenug des Erstaunlichen der Anwesung selbst. Aber das εἶναι wird doch in den Bezug zum νοεῖν gestellt, beide als zusammengehörig gedacht. Gewiß — aber das νοεῖν ist das Verhalten des selbst anwesenden »Menschen«, die Vernehmung ist die als solche unerkannte Gegen-wärtigung des gleichfalls in seinem »Zeit«-charakter ungedachten Anwesenden; wiederum wird nicht bedacht und befragt, was das ist, wohinein und wohindurch gleichsam das Vernehmen sich er-streckt und aus-streckt, um Anwesendes als solches zu nehmen und zu haben.

Aber gelangt das griechische Denken nicht doch noch einen Schritt »weiter«? Das ζυγόν, das Joch, was ὄν (οὐσία) und νοεϊν unter sich und zusammen nimmt, deutet das nicht darauf, daß die ἀλήθεια nicht nur als Anwesenheit des Seienden (als Sein) vor-gestellt, sondern zugleich gedacht wird als Jenes, was an-wesend gleichsam überschwingt in die Vernehmung, um ihr den Bogen zum Seienden zu gewähren? Allerdings — wir müssen, auf die Gefahr der Überdeutung hin, bereit bleiben, hier zu erfahren, wie das Sein gedacht wurde: eben nicht als am Seienden vorhandene allgemeinste Eigenschaft, sondern als An-wesung, die das Vernehmen erst zu sich herüberschwingen und sich zugehören läßt (φύσις als aufgehendes Walten). Freilich — der Name des »Joches« kommt wie von außen und scheint die Meinung zu bestärken, daß hier zwei Vorhandene, das »Seiende« und die »Seele«, unter-jocht und zusammengespannt werden; es scheint nicht nur so, sondern das griechische


Martin Heidegger (GA 66) Besinnung